Die   Ostkirche. Von Metropolit Seraphim. 1. Auflage. W.  Spemann  Verlag,   Stuttgart 1950.

 

Metropolit Seraphim (Lade)

Die   Ostkirche
I. Teil

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Vorwort

Das vorliegende Buch »Die Ostkirche« ist vor allem für diejenigen deutschen Kreise bestimmt, die sich für die Ostkirche interessieren, und soll diese Kreise nicht nur in die Geschichte, sondern auch in die Dogmatik und das Geistesleben der orthodoxen Kirche des Ostens einführen. Es gibt schon eine ganze Reihe guter Werke über die Ostkirche (z. B. F. Heiler, Ostkirche und Urkirche) sowie zahlreiche Arbeiten katholischer Theologen (Wunderle, Tyciak). Dieses Buch unterscheidet sich von den vorgenannten und ähnlichen hauptsächlich dadurch, dass es von orthodoxen Theologen geschrieben ist.

Der Verfasser des ersten Teiles, der von der orthodoxen Glaubenslehre — Dogmatik handelt, ist der Metropolit des Orthodoxen Mitteleuropäischen Metropolitankreises und Erzbischof von Berlin und Deutschland Seraphim, unter dessen Redaktion dieses Werk auch erscheint. In diesem Teil werden unter anderem auch liturgische Zeugnisse angeführt, die auf den zweiten, das geistliche Leben in der Orthodoxie behandelnden Teil hinweisen, da in der Orthodoxen Kirche der Kultus ja im Mittelpunkt des kirchlichen Lebens steht. Der zweite Teil, der das kirchliche Leben der Ostkirche schildert, wurde von einem der besten Theologen der Orthodoxen Kirche, dem Professor der ehemaligen kaiserlichen Geistlichen Akademie in Kiew Iwan Tschetwerikow verfaßt. Der historische Teil stammt von dem Dipl.-Theologen der Universität Belgrad, Priester Wassilij Lengenfelder, einem Kenner der orthodoxen Kirchen des Balkans; er hat auch den von Professor I. Tschetwerikow verfaßten zweiten Teil aus dem Russischen übersetzt.

Dem Leser wird es vielleicht auffallen, daß besonders im <10> zweiten Teil verhältnismäßig viel von dem geistlichen Leben der Russischen Kirche gesagt ist. Das erklärt sich einfach dadurch, daß die  überwiegende Mehrzahl  der orthodoxen Christen der Russischen Orthodoxen Kirche angehört und das kirchliche Leben sich in  der Russischen Kirche im Laufe vieler Jahrhunderte   ruhig   und   friedlich   entwickeln konnte, während die orthodoxen Kirchen auf dem Balkan in ihren Möglichkeiten  sehr eingeschränkt waren,  da sie sich jahrhundertslang unter türkischer Herrschaft befanden und dadurch in ihrer Entwicklung gehemmt waren. Das kirchliche Leben in den slawischen Kirchen des Balkans und auch in der Rumänischen Orthodoxen Kirche hat sich in der letzten Zeit  teilweise  auch unter dem Einfluss  der Russischen Kirche gebildet, da sich die Zarenregierung seinerzeit als Beschützerin der orthodoxen Christen des Balkans gefühlt und sich ihrer tatsächlich sehr angenommen hat. Auch die Theologie hat sich in diesen Kirchen nicht ohne Einfluß der russischen orthodoxen Theologie entwickelt. Viele von den jetzt noch  lebenden   Hierarchen   der  orthodoxen   Balkankirchen haben seinerzeit ihre theologische Ausbildung an russischen theologischen Akademien erhalten. Auch gegenwärtig beansprucht ja die von der Sowjetregierung legalisierte Russische Patriarchatskirche die führende Rolle unter den autokephalen orthodoxen Kirchen.  Beweis  dafür  ist  die im Jahre 1948 stattgefundene Konferenz in Moskau, auf die alle  autokephalen  orthodoxen  Kirchen,  ausgenommen  das  Patriarchat von Jerusalem, das  augenscheinlich durch die  kriegerischen Ereignisse  in Palästina  verhindert war, ihre Vertreter entsandt hatten. Auch hier im Auslande, besonders in Europa und Amerika, ist die Russische Orthodoxe Kirche am stärksten vertreten.

Der Zweck dieses Buches ist selbstverständlich nicht Proselytenmacherei. Deshalb haben wir uns auch jeglicher unnützen Polemik enthalten. Unser einziges Ziel war, eine objektive Darstellung unseres Glaubens und eine Schilderung <11> unseres kirchlichen Lebens zu geben. Unser Werk ist deshalb keine Streitschrift, sondern eher ein Bekenntnis dessen, was uns heilig und teuer ist. Wir hoffen, daß es eine günstige Aufnahme bei allen Lesern finden wird.

Metropolit Seraphim.

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Einleitung

Der orthodoxe Orient ist lange Zeit für weite Kreise der abendländischen Christenheit ein fast unbekanntes Land gewesen. Nur Theologen und sonstige Gelehrte befaßten sich mit der Geschichte, der Dogmatik, der Liturgik und dem religiösen Leben der orthodoxen Kirche; die Masse der Gläubigen stand abseits dieser rein wissenschaftlichen Interessen. Nur allmählich verbreiteten sich Kenntnisse über die orthodoxe Kirche, besonders nach dem ersten Weltkriege, der zu einer geistigen Fühlungnahme mit ihr führte, z. B. auf den ökumenischen Konferenzen. Nicht zu unterschätzende Bedeutung hatten auch die russischen Emigranten, die nach dem Siege des Bolschewismus nach Westeuropa flüchteten und hier ein Asyl fanden. Sie brachten ihren Glauben, ihren Kultus, ihre Traditionen und Gebräuche mit und erweckten in vielen das Interesse für die Orthodoxie. Jetzt ist es fast allen bekannt, daß zwischen der orthodoxen Kirche und den abendländischen Bekenntnissen teils Übereinstimmung, teils Differenzen bestehen. Man weiß z. B., daß die römischkatholische Kirche und mit ihr die evangelischen Kirchen das »filioque«, das nach ihrer Glaubenslehre implicite im nicäno-konstantinopolitanischen Symbol enthalten sei, anerkennen, die orthodoxe Kirche aber das »filioque« als einen späteren Zusatz zu diesem Symbol verwirft. Gemeinsam mit der römisch-katholischen Kirche verehrt die orthodoxe die Heiligen, aber ebenso wie die evangelischen Christen bestreitet sie den Primat des Papstes und das Unfehlbarkeitsdogma. Wenn man aber die Aufmerksamkeit nur auf die dogmatischen Formulierungen richten würde, so bekäme man doch keinen richtigen Begriff von der Orthodoxie, denn das Charakteristische ist nicht der verbale Ausdruck, sondern die Auffassung der Dogmen, der Sinn, der in die dogmatischen <14> Formulierungen hineingelegt wird, und außerdem die Konsequenzen, die aus ihnen abgeleitet werden.

Damit soll nicht gesagt sein, daß die dogmatischen Definitionen für den orthodoxen Christen nur untergeordnete Bedeutung haben. Nicht im Geringsten! Diese Definitionen sind für die orthodoxe Christenheit ein heiliges Erbe; ist doch gerade vorzugsweise die östliche Hälfte der alten Kirche die Schöpferin dieser Dogmen gewesen und will sie bis ans Ende der Welt rein, unverändert, unversehrt bewahren. Doch ist man sich dort immer dessen bewußt, daß die Dogmen keine abstrakten Ausdrücke, sondern lebendige Wahrheiten sind und nur im Leben erkannt werden. Die Orthodoxie will nicht Doktrin sein, die ohne Mühe auch dem Außenstehenden zugänglich ist, sondern die Darstellung und Verwirklichung der Wahrheit im Leben. Wer dieses Leben nicht kennt, nicht in dieses Leben eingeht, dieses Leben nicht miterlebt, der wird die Orthodoxie niemals richtig verstehen, und dies umso weniger, als ja das »Wesen« oder der »Geist« der Orthodoxie niemals in einer präzisen Formel ausgedrückt worden ist. Hieraus erklären sich die mannigfachen Mißverständnisse und falschen Vorstellungen über die Orthodoxie, die in weiten Kreisen der abendländischen Christenheit verbreitet sind, z. B. die Meinung, die Orthodoxie sei »die Mitte zwischen Katholizismus und Protestantismus«; oder die Behauptung, die orthodoxe Kirche sei nur eine »erstarrte Mumie« oder »quietistische Kultusgemeinschaft« (A. v. Harnack).

Der orthodoxe Orient ist lange Zeit geistig vom Westen getrennt gewesen und seine eigenen Wege gegangen. Der Okzident hatte sich wenig um das kirchlich-religiöse Leben und die Eigenart der Orthodoxie gekümmert. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn der orthodoxe Orient dem Okzident verschlossen blieb und man nicht selten zu falschen oder wenigstens einseitigen Urteilen und Wertungen kam. Nur liebevolles Eingehen in das Leben der Orthodoxie, Sympathie im eigentlichen Sinne dieses Wortes, erschließen das <15> Wesen, den Geist der Orthodoxie. Eine auf diesem Wege erworbene Erkenntnis wird sich dann nicht an den vielen Schattenseiten und Verfehlungen im Leben der orthodoxen Christen stoßen, die oft nur beklagenswerte Folgen fremder Einflüsse oder geschichtlich bedingt sind. Auch hier im Okzident klafft ja nicht selten eine Kluft, ein Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, Ideal und Wirklichkeit, Aufgabe und Erfüllen. — Mit Genugtuung kann man feststellen, daß sich in den letzten Jahrzehnten eine Wendung vollzogen hat. Man blickt mehr und mehr nach dem Osten. Manchmal sind zwar Unionsbestrebungen, sogar Proselytismus die treibenden Motive. Aber in vielen Fällen ist man aufrichtig bestrebt, den orthodoxen Orient zunächst einmal kennen zu lernen und zu verstehen, den Reichtum, die Tiefe und geistige Schönheit der Orthodoxie und das Wesen und die Psychologie der eigenartigen orthodoxen Frömmigkeit zu erschließen, um auf diesem Wege zu einer gerechten, objektiven Wertung zu kommen.

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Dogmatischer Teil

Die Glaubenslehre der Orthodoxen Kirche

Die ursprüngliche Heimat des christlichen Dogmas und der Dogmatik ist der Orient, der gleichzeitig auch die Heimat vieler Häresien war, gegen die er sich im Dogma zu schützen hatte. Der christliche Okzident hat natürlich auch am Kampf gegen die verschiedenen Häresien teilgenommen und zur dogmatischen Formulierung der christlichen Glaubenswahrheiten beigetragen; er hat sich aber vorwiegend der Praxis des kirchlichen Lebens gewidmet und sich um die kirchliche Verfassung und Disziplin bemüht. Die Griechen dagegen hatten eine mehr intellektuelle Begabung und waren zum Philosophieren geneigt. Deshalb haben sie im Kampfe gegen die Häresien den dogmatischen Inhalt des Christentums herausgearbeitet und die dogmatischen Wahrheiten der Kirche formuliert. Diese Rolle hat die griechisch-orthodoxe Kirche bis zum Untergang des Byzantinischen Reiches im christlichen Orient gespielt.

Die orthodoxen Russen hatten sich zunächst damit begnügt, das zu wiederholen, was sie von ihren Lehrern, den Griechen, erhalten hatten. Im Kampfe gegen die Sekte der »Judaisierenden« (im 15. Jahrhundert) beschränkten sich die russischen Theologen, z. B. der hl. Joseph von Wolokolamsk, Maximus der Grieche, Sinowij und andere, darauf, daß sie die Häretiker nur mit Texten und dogmatischen Ausführungen aus den Werken der alten Kirchenväter widerlegten. Erst im 16. und 17. Jahrhundert, als die russischen Hierarchen sich veranlaßt sahen, dem vordringenden römischen Katholizismus <18> entgegenzutreten, erschienen die ersten systematischen dogmatischen Werke russischer Theologen. Es waren dies aber keine selbständigen Werke, sondern oberflächliche Umarbeitungen  römisch-katholischer  dogmatischer  Lehrbücher;  man ließ einfach das aus, was das orthodoxe Credo nicht enthielt und fügte einiges hinzu, was in den römisch-katholischen Vorlagen fehlte. Zu diesen Arbeiten orthodoxer Theologen gehören »Der große Katechismus« von Lawrentij Sisanius und vor allem »Das orthodoxe Bekenntnis« des berühmten Metropoliten von Kiew,  Peter Mogilas. Die Werke sind sowohl der Form als auch dem Inhalte nach stark von der lateinischen Scholastik beeinflußt, sogar abhängig. Als die Kiewer Theologen, die im Geiste dieser Theologie erzogen waren, nach Moskau kamen, fanden sie dort keine Sympathie, im Gegenteil, man verdächtigte sie sofort der Heterodoxie.  Erst im 18. Jahrhundert gewann diese Kiewer Theologie immer mehr an Boden und wurde allmählich zur herrschenden, hauptsächlich weil die Kiewer Theologen von Peter dem Großen unterstützt wurden. Nach Peter dem Großen waren die äußeren Bedingungen zu ungünstig für die Entwicklung einer selbständigen russisch-orthodoxen Theologie. Wenn früher der Einfluß der römisch-katholischen Theologie herrschend gewesen war, so wurde er später von protestantischen Einflüssen verdrängt, da am Zarenhofe Vertreter des Protestantismus ihre Anschauungen  zur Geltung  bringen  konnten.  Die  wenigen theologischen  Lehranstalten,  die  es  damals gab,  spiegelten nur die wechselnden Einflüsse, Tendenzen und Stimmungen wider. Noch im Jahre 1900 forderte der russische Theologe, der Hieromonach  Tarassij:  »Man muß  unsere  Orthodoxie zur   ursprünglichen   Reinheit   der Väter   zurückführen,   nur dann werden wir verstehen, daß sie fähig ist, ihre Entwicklung, der feindliche äußere Umstände entgegenstanden, fortzusetzen.« Seit Anfang des 20. Jahrhunderts sind alle hervorragenden russischen Hierarchen und Theologen einmütig in der Forderung: Los von der Scholastik! Los vom Rationalismus! <19> Zurück zu den alten hl. Vätern und Lehrern der patristischen Zeit!

Einer der Vertreter der Slawjanophilen, J. F. Samarin, machte der modernen orthodoxen Theologie den Vorwurf, sie habe sich zu sehr vom Leben und der lebendigen Kirche entfernt. Er behauptete sogar, daß diese rationalistische Theologie an der weiten Verbreitung des religiösen Indifferentismus und Unglaubens schuld sei. Ein anderer Theologe wies darauf hin, daß die orthodoxe Theologie zwischen Subjektivismus und Objektivismus schwanke und nicht wisse, welchen Weg sie gehen soll: den intellektuell-dogmatischen (objektiven) oder empirisch-psychologischen (subjektiven). Beide seien Extreme und gefährlich, denn der erste führe zum Pelagianismus und zur rationalistischen Scholastik, der zweite sei der Weg der Theologie des Protestantismus. Die orthodoxe Theologie müsse vom Geist des Rationalismus und der rationalistisch-analytischen Methode befreit werden, den Geist und das religiöse Leben der Orthodoxie zum Ausdruck bringen und empirisch begründet sein, nur so sei es möglich, den dogmatischen Formeln der ökumenischen Konzile und der hl. Väter ihren ursprünglichen lebendigen Sinn und ihre Bedeutung zurückzugeben. Die beiden bekannten Hierarchen und hervorragenden Theologen Metropolit (später Patriarch) Sergius und Metropolit Antonius (Chrapowitzky) wiesen darauf hin, daß in der traditionellen rationalistischen Theologie der moralische Wert der dogmatischen Wahrheiten nicht zum Ausdruck kommen könne, da das Dogma losgelöst vom kirchlich-religiösen Leben betrachtet werde. Ein Beispiel dieser rationalistischen Theologie sei die »Dogmatische Theologie« des Metropoliten von Moskau, Makarius. Die Methode dieser Theologie sei die rationalistisch-analytische. Das Dogma werde nicht auf Grund der kirchlichen Erfahrung dargestellt; es werde auch nicht der sittliche Inhalt und die sittliche Bedeutung des Dogmas erörtert; das Dogma sei hier nur eine Schlußfolgerung aus Syllogismen. <20> Deshalb könne diese Theologie nicht der Wegweiser für die zu Gott strebende Seele sein und auch nicht den religiösen Durst der Seele löschen.

Charakteristisch für die neuere orthodoxe dogmatische Theologie sind auch die Bestrebungen, eine bestimmte Idee zur Grundlage der Dogmatik zu machen; diese Idee soll sozusagen die Seele des Systems und der Zentralpunkt sein, in dem sich gleich den Radien die einzelnen Glaubensartikel vereinigen. Man will der apostolischen und patristischen Theologie folgen, die ja, wie bekannt, auch von bestimmten Ideen beseelt und durchdrungen war. Die Zentralidee der Evangelien ist das Reich Gottes, der Johanneischen Schriften die Liebe und das ewige Leben, die der Theologie des Apostels Paulus das Heil durch den Glauben. Die theologischen Anschauungen der alten Kirchenlehrer Athanasius des Großen, Kyrills von Alexandrien, Klemens von Alexandrien, Maxims des Bekenners und anderer waren von der Idee der Vergöttlichung durchdrungen. Was die neueren russischen Theologen betrifft, so basierten die theologischen Anschauungen A. S. Chomjakows auf der Idee der Kirche, in der sich die christliche Liebe realisiert; die Kirche ist der Organismus der allesvereinigenden Liebe. Nach der Meinung W. S. Solowjews ist die Grundidee des Christentums das Reich Gottes, in dem sich die Gerechtigkeit Gottes und seine universale Alleinheit realisiert; bekannt ist auch die Idee Solowjews von der Gottmenschheit. Professor Propst P. Swjetlow ging von dem Gedanken aus, daß der ganze dogmatische Inhalt des Christentums nur in Verbindung mit der Idee vom Reiche Gottes dargelegt werden könne; nur dann erhalte die Dogmatik Bedeutung für das Leben. Noch früher hatte der Professor der Moskauer Geistlichen Akademie A. Bjeljajew ein dogmatisches System ausgearbeitet, in dem alle Dogmen aus der Idee der Göttlichen Liebe hergeleitet sind. — Die schon genannten Theologen Metropolit (Patriarch) Sergius und Metropolit Antonius (Chrapowitzky) gaben in ihren <21>  Schriften eine sittliche Auffassung und Erklärung der Dogmen; in jedem Dogma ist eine sittliche Idee enthalten, deshalb begründet das Dogma das sittliche Leben des Christen. Der russische Bischof Theophan (der Einsiedler) vertrat eine asketisch fundierte orthodoxe Theologie. Von den nach Westeuropa emigrierten russischen Theologen hat der verstorbene Professor des Pariser orthodoxen theologischen Institutes Propst S. Bulgakow ein originelles theologisches System ausgearbeitet (das allerdings unvollendet geblieben ist), in dem er sich bemüht hat, die orthodoxen Dogmen mit der gnostischen Sophiologie zu verbinden. Allerdings wird diese Ideologie und Interpretation der Dogmen von der überwiegenden Mehrheit der orthodoxen Theologen abgelehnt; das Moskauer Patriarchat hat sie sogar als Häresie qualifiziert.

Der Begriff des Dogmas ist in der orthodoxen Theologie fast derselbe wie in der abendländischen. Das Dogma ist auch für den orthodoxen Christen eine von der ökumenischen Kirche sanktionierte Definition einer geoffenbarten Glaubenswahrheit, die für alle Gläubigen verpflichtend ist, da ihre Anerkennung und ihr Bekenntnis eine Heilsnotwendigkeit sind. Im Dogma ist das Credo der ökumenischen, nicht nur einer lokalen Kirche enthalten. Nach den Worten eines orthodoxen Dogmatikers, des Bischofs Sylvester, sind die Dogmen Wahrheiten des christlichen Glaubens. Da die Wahrheiten des christlichen Glaubens göttliche Offenbarungen sind, sind auch die Dogmen göttlich und deshalb unumstößlich und unveränderlich. Weiterhin sind die Dogmen Wahrheiten, die von der Kirche, die »die Säule und Grundfeste der Wahrheit« ist, definiert und zum Heile für jeden notwendig sind.

Seinem Inhalte nach ist das Dogma der Ausdruck der religiösen Erfahrung. Im Glauben erkennt der Mensch Gott. Der Glaubensakt ist ein Eingehen des Erkennenden in das zu Erkennende oder den zu Erkennenden; hier vollzieht sich die Vereinigung, die Gemeinschaft des Subjektes mit dem Objekt. Das Dogma ist der Ausdruck des Inhaltes dieses <22>  religiösen Aktes der Gotteserkenntnis durch den Glauben, der Ausdruck des inneren religiösen Erlebnisses und der religiösen Erfahrung. Der Glaube ist ja ein lebendiger Akt und dynamischer Prozeß der gläubigen Seele, nämlich das dynamische Streben und Eingehen der Seele in die Sphäre des göttlichen Seins. Das Dogma, als Resultat der Reflexion des Verstandes über den Inhalt des Glaubens, ist das Sichbewußtwerden des Inhaltes der Glaubenserfahrung.

Selbstverständlich ist die Grundlage der orthodoxen Theologie nicht die Erfahrung der isolierten individuellen Persönlichkeit, sondern der ökumenischen Kirche, des göttlichen Lebens, das sich in den Gliedern des Organismus der ganzen Kirche offenbart. Deshalb ist auch das Dogma nicht der Ausdruck nur subjektiver Erlebnisse, Erfahrungen und Zustände der gläubigen Seele. Das Christentum beruht auf objektiven historischen Tatsachen, darum muß auch das Dogma der Ausdruck objektiver Tatsachen, Tatsachen der göttlichen Offenbarung sein. Es ist nach orthodoxer Anschauung eben »der Ausdruck des allgemeinkirchlichen Bewußtseins dieser Heilstatsachen, die die Hauptmomente und Grundlagen des christlichen Glaubens bilden« (Prof. Propst P. Swjetlow). Im Dogma hat sich das Bewußtsein der ökumenischen Kirche kristallisiert; in ihm sind die äußere und innere Seite des Lebens und des Wesens der Orthodoxie vereinigt. Die Dogmen sind »Worte der Kirche«. In der Formulierung der Dogmen hat die Kirche einen Akt der Selbstbestimmung vollzogen. Deshalb betrachtet die orthodoxe Kirche die Epoche der ökumenischen Konzile als goldene Ära der Kirchengeschichte.

Nach orthodoxer Anschauung sind also die Dogmen symbolische Ausdrücke von Tatsachen mystischer Ordnung des sich in der Kirche offenbarenden und realisierenden göttlichen und gottmenschlichen Lebens. Die Orthodoxie ist ja nicht Lehre, sondern Leben, auch nicht Lehre vom Leben, sondern das wirkliche wahre Leben, das in Christo erschienen und in <23>  der Inkarnation des Logos der empirischen Welt eingepflanzt ist. Deshalb bezeichnen die Dogmen diese göttliche Wirklichkeit, diese göttlichen Tatsachen, die in der Offenbarung des fleischgewordenen Logos dieser Welt und dem irdischen menschlichen Leben immanent geworden sind.

Selbstverständlich kann die Fülle der göttlichen Wahrheit niemals in menschlichen Worten und Begriffen erschöpfend ausgedrückt werden (vergl. 1. Kor. 14, 12; 2. Kor. 12, 2—4). Erst in der Ewigkeit werden wir die Wahrheit von Angesicht zu Angesicht schauen. Deshalb sagen wir auch, daß die Dogmen nur Symbole der christlichen Mysterien sind.

Hieraus erklärt sich, warum die Orthodoxie sich der einseitig rationalistischen Theologie gegenüber ablehnend verhält. Diese Theologie kann niemals bis zum mystischen Zentrum des Christentums vordringen und gibt nur eine abstrakttheoretische Lehre von Gott und den anderen Glaubenswahrheiten. Die Geschichte der Kirche beweist, daß fast alle Häresien auf rationalistischem Boden entstanden sind, z. B. der Arianismus, Pelagianismus, die Bilderstürmerei usw.

Der hervorragende russische Philosoph A. Wwendensky forderte seinerzeit die Ausarbeitung einer philosophischen Dogmatik. Niemand wird leugnen, daß die großartigen Systeme einer philosophischen Dogmatik etwas Anziehendes haben. Es muß auch anerkannt werden, daß die Anwendung philosophischer Methoden bei der Untersuchung, Darlegung und Erklärung der Glaubenswahrheiten nützlich ist. Andererseits haben aber orthodoxe Theologen darauf hingewiesen, daß in diesen metaphysischen Systemen das in Christo erschienene göttliche Leben schwer zu finden ist. Das heißt aber nicht, daß die Orthodoxie jedes spekulative Element in der Theologie verwirft. Nein, auch das spekulative Element muß seinen Platz erhalten, z. B. wenn es sich um die organische Verbindung der einzelnen Glaubensartikel zu einem System handelt. Das philosophische Element ist auch nötig, wenn wir den Glauben dem Unglauben gegenüberstellen und die <24> Erhabenheit und Berechtigung des christlichen Glaubens darlegen wollen. Aber dennoch, wenn die Dogmen sozusagen Denkmäler der Begegnung der gläubigen Seele mit dem sich offenbarenden Gott, Ausdrücke der Glaubenserfahrung und des Glaubensbewußtseins der Kirche sind, mystische Momente, Tatsachen und Erkenntnisse symbolisch bezeichnen, dann kann ihr Inhalt nicht allein durch rein verstandesmäßige Arbeit erfaßt werden, sondern nur in der mystischen Erfahrung, im Streben zu Gott, im Aufstieg in die göttliche Welt, mit dem Beistand der Gnade der Erleuchtung. Die lebendige Erfahrung hat es immer mit konkreten Tatsachen zu tun, deshalb ist auch die Theologie, die sich auf das religiöse Leben gründet und aus der religiösen Erfahrung schöpft, nicht abstrakt, sondern konkret und lebendig. Die dogmatischen Formeln erhalten Fleisch und Blut; das Christentum wird als göttliches Leben und göttliche Kraft erkannt.

Entscheidend ist für die Theologie aber nicht die individuelle persönliche, sondern die ökumenisch-kirchliche Erfahrung. Die Erkenntnis der Glaubenswahrheiten ist nur unter der Bedingung möglich, daß der Theologe am kirchlichen Leben, am kirchlichen Bewußtsein und an der ökumenischkirchlichen Vernunft teilnimmt.

Der russisch-orthodoxe Philosoph Iwan Kirejewsky hat eine religiöse Gnoseologie des »ganzheitlichen« oder »lebendigen Wissens« entwickelt. »Jeder orthodoxe Christ«, schreibt er, »ist sich in der Tiefe der Seele dessen bewußt, daß die Göttliche Wahrheit nicht mit Erwägungen des gewöhnlichen Verstandes erfaßt werden kann, sondern eine höhere geistige Schau erfordert.« »Der richtige Ort für die höchste Wahrheit« ist »die innere Ganzheit des Denkens«, »der Mittelpunkt des Selbstbewußtseins«, »wo nicht nur der abstrakte Verstand, sondern die Gesamtheit der intellektuellen und seelischen Kräfte ein gemeinsames Siegel der Gewißheit auf den Gedanken legen, der vor dem Verstand steht.« »Der Hauptcharakter <25> des gläubigen Denkens besteht in dem Bestreben, alle einzelnen Teile der Seele in einer Kraft zu sammeln und jenen inneren Mittelpunkt des Seins zu suchen, wo der Verstand und der Wille, das Gefühl und das Gewissen... und der ganze Umfang des Geistes in einer lebendigen Einheit zusammenfließen und auf diese Weise die wesentliche Persönlichkeit des Menschen in ihrer ursprünglichen Ungeteiltheit wiederhergestellt wird.« Das »lebendige Wissen« bestellt aus zwei innerlich verbundenen und sich gegenseitig bedingenden Prozessen: dem sittlichen und dem mystischen. »Es wird nach dem Maße   des   inneren Strebens   zur sittlichen Höhe und Ganzheit erhoben.« Die mystische Quelle der Erkenntnis ist der Glaube, die Grundlage des Glaubens ist »das Bewußtsein der Beziehung der lebendigen göttlichen Person zur menschlichen Persönlichkeit«, d. h. »der Begegnung Gottes mit dem Menschen«. Diese Gnoseologie von Kirejewsky ist eigentlich dasselbe, was man gewöhnlich »Erkenntnis mit dem Herzen« nennt, wobei man unter dem Ausdruck »Herz« das Zentrum der menschlichen Persönlichkeit versteht. »Das Herz ist der Mittelpunkt nicht nur  des  Bewußtseins,  sondern  auch  des Unbewußten, nicht nur der Seele, sondern auch des Geistes, nicht nur des Geistes,   sondern   auch   des Körpers...   Als solcher  absoluter Mittelpunkt der  religiösen  Persönlichkeit ist   das   Herz   das   Organ   der   religiösen Wahrnehmung.« (B. P. Wyscheslawzew). — »Selig sind, die reinen Herzens sind; sie werden Gott schauen«   —   hat   unser Herr   und Heiland Jesus Christus gesagt. Nur ein reines Herz, in dem die Flamme der Liebe brennt, hat Zutritt zu Gott. Deshalb haben auch die russischen Starzen immer wiederholt, daß nur dann, wenn »der Verstand im Herzen steht«, der Mensch Gott und die Geheimnisse des göttlichen Lebens   und der höheren Welt erkennt.

Reinheit und Tugend sind die ersten Bedingungen wahrer Gotteserkenntnis. »Ich wundere mich,« spricht der hl. Simeon der Neue Theologe, »daß es nicht wenige Menschen gibt, die <26>  nicht erzittern, wenn sie von Gott theologisieren, obgleich sie mit Sünden erfüllt sind. . .« Ein anderer hl. Vater — Johannes Klimakus — schreibt: »Die Tugend macht zum Theologen.« Wahre Gotteserkenntnis ist also nur dort, wo der Mensch sein Herz, sein ganzes inneres Wesen von der Sünde, allen Lastern und Befleckungen gereinigt hat, auf dem Wege der Tugend wandelt, vornehmlich in der tätigen Liebe lebt, im geistigen Leben wächst und sich im betrachtenden Gebet zu Gott erhebt. Nur dann überkommt den Menschen der Heilige Geist, der der Geist der Wahrheit ist und in alle Wahrheit leitet. Dies ist der mystisch-pneumatische Weg der Gotteserkenntnis, die in der orthodoxen Kirche vorherrschende Methode der Theologie. Die Ostkirche ist überzeugt, daß nur durch die Mystik und die erleuchtende Gnade des Heiligen Geistes die dogmatischen Wahrheiten erkannt werden, die von dem Geist geoffenbart sind, der seit dem apostolischen Pfingsttag in der Kirche wirkt.

Die dogmatische Entwicklung

Der hl. Irenäus hat geschrieben: Nachdem die Kirche gegründet worden ist, »haben die Apostel wie in ein reiches Magazin ausgiebigst in sie niedergelegt alles zur Wahrheit Gehörige, damit jeder, wer da nur will, aus ihr nehme den Trank des Lebens«. (Gegen die Häresien. 3, 4). Die Aufgabe der Kirche ist es, diese ihr anvertraute Wahrheit unverfälscht zu bewahren, nicht zu verändern, nichts hinzuzufügen, nichts wegzulassen. »Selbst wenn wir oder ein Engel vom Himmel euch ein anderes Evangelium verkündeten, als wir euch verkündet haben: er sei verflucht«, schreibt der hl. Apostel Paulus an die Galater (l, 8). Deshalb kann, glaubt die orthodoxe Kirche, keine Rede sein von einer Entwicklung, Vervollkommnung oder Erweiterung der in der Kirche bewahrten dogmatischen Wahrheiten.

<27> Als die Väter der ökumenischen Konzile ihre dogmatischen Definitionen abfaßten, hatten sie nicht die Absicht, neue, bisher unbekannte oder noch nicht in das Bewußtsein der Kirche aufgenommene Lehren festzusetzen. Mittels ihrer dogmatischen Formulierungen wollten sie nur die von Christus und den hl. Aposteln verkündete und von den Häretikern bekämpfte Wahrheit vor jedweder Entstellung schützen. Die konzilirischen dogmatischen Bestimmungen waren nur Schutz-Maßregeln. Deshalb betrachtet die orthodoxe Kirche als ihre einzige und heiligste Pflicht die Bewahrung und Beschützung des apostolischen Glaubens und verwirft alle dogmatischen, der alten Kirche unbekannten Neuerungen. In diesem Konservativismus sieht sie ihren Vorzug.

Die orthodoxe Theologie unterscheidet das Wesen des Dogmas von der äußeren Form. Das Wesen ist der Inhalt des Dogmas, der in der göttlichen Offenbarung gegeben ist; die Form ist die äußere Hülle, der wörtliche Ausdruck, mittels dessen die Menschen den Inhalt des Dogmas erkennen und sich aneignen. Der wesentliche Inhalt des Dogmas kann nicht verändert werden, denn er ist göttlicher Herkunft. Das Göttliche kann nicht der Entwicklung unterliegen. Hier beschränkt sich die Rolle der Kirche nur auf die sorgfältigste Bewahrung. Was aber die äußere Form, den wörtlichen Ausdruck des Dogmas betrifft, so läßt die orthodoxe Theologie eine gewisse Vervollkommnung zu, wenn dies einer besseren Erklärung und besseren Aneignung des dogmatischen Inhalts förderlich ist. Die religiöse Erkenntnis und das religiöse Bewußtsein können sich entwickeln und vervollkommnen, deshalb können sich auch die wörtlichen Formulierungen der Dogmen entwickeln. Mit anderen Worten, objektiv sind die dogmatischen Wahrheiten als göttliche Offenbarungen unveränderlich und unantastbar für alle Zeiten. Subjektiv, d. h. in Bezug auf das Erkenntnis- und Auffassungsvermögen der Menschen, können sich die dogmatischen Formeln verändern, evolutionieren. Während der wesentliche Inhalt des Dogmas absolut <28> vollkommen ist, ist die äußere Form, der theologische Ausdruck nur relativ vollkommen. Die sich in der Kirche vollziehende Dogmatisierung ist ein gottmenschlicher Prozeß, an dem einerseits der Heilige Geist, andererseits der menschliche Geist teilnimmt. Der Heilige Geist offenbart die göttliche Wahrheit; der menschliche Geist strebt zur Erkenntnis und Aneignung derselben. Während in der Offenbarung das absolute, unveränderliche Wesen des Dogmas gegeben ist, vollzieht sich die Erkenntnis, das Verständnis und die Aneignung der dogmatischen Wahrheit nur allmählich, progressiv.

Die Formulierung irgendwelcher neuen Dogmen kann die orthodoxe Kirche nicht zulassen, denn ihr ist nicht die Gabe der Inspiration in dem Sinne gegeben, daß sie eine Quelle neuer Offenbarungen ist. Die dogmatischen Definitionen der ökumenischen Konzile sind nach der Überzeugung der orthodoxen Kirche keine »neuen« Dogmen gewesen, sondern nur neue, genauere Formulierungen der alten apostolischen Lehre, die die Kirche seit dem ersten Tage ihrer Geschichte bekannte und verkündigte. Derartige neue Fixationen sind auch in Zukunft möglich.

Die gegenwärtige Theologie unterscheidet Dogmatik und Moral. Diese Einteilung ist der Heiligen Schrift fremd; hier sind Lehre und Leben, Dogma und Moral ein untrennbares Ganzes. Man erwidere nicht, daß Dogmatik und Moral verschiedene Gebiete sind, da jede von ihnen besondere Probleme behandelt, die Dogmatik Fragen bezüglich der transzendenten Welt (Lehre von Gott, Gottes Eigenschaften usw.), die Moral Fragen des praktischen Lebens. Beide Arten von Problemen sind eng verbunden, gegenseitig abhängig, können deshalb gar nicht getrennt behandelt werden. Wenn ein Dogma von seiner Wurzel, d. h. vom religiösen Leben, von der ökumenisch-kirchlichen Erfahrung losgetrennt wird, bleibt von ihm nur noch ein abstrakter Begriff, eine tote Formel, die keine Bedeutung für das religiöse Leben hat.

Die Väter und Lehrer der alten Kirche haben niemals die <29> Wahrheiten des Glaubens von den Wahrheiten des Lebens getrennt. Erst seit dem 4. Jahrhundert begann man mit dem Terminus »Dogma« vorwiegend die Wahrheiten der Glaubenslehre zu bezeichnen. Aber auch in den folgenden Jahrhunderten haben  es  alle großen Theologen der  Ostkirche möglichst vermieden, den Inhalt des Glaubens zu rationalisieren, d. h. die Glaubenslehre   vom Leben   in Christo zu trennen. Diese Theologen, z. B. Athanasius der Große, Maxim Confessor und andere, betrachteten den ganzen Inhalt des Christentums als eine unzerlegbare organische Einheit. Für sie war das Dogma Ausdruck des lebendigen Wesens des Christentums, z. B. die Idee der Vergöttlichung, überhaupt des Heils. Keiner von ihnen hat eine von der »Moraltheologie« gesonderte »Dogmatische Theologie« geschrieben. Nach ihrer Anschauung hat das Dogma sittlichen Inhalt, und die Wahrheiten sittlicher Ordnung sind in den Dogmen verwurzelt. Sie  sind nicht  nur Wegweiser, die  auf  den Weg  zur Erkenntnis der Wahrheit in der kirchlichen Erfahrung und in der Teilnahme am gottmenschlichen Leben der Kirche hinweisen. Sie entwickeln, konkretisieren und erklären nicht nur den  Inhalt der göttlichen  Offenbarung und das  mystische Leben des Leibes Christi — der Kirche und der Dynamik der intuitiven Gotteserkenntnis. Das Dogma ist nicht nur theoretisches Ordnungsprinzip des christlichen Lebens im Geist und  in der Wahrheit.  Seine praktische Bedeutung besteht auch nicht nur darin, daß es die Christen in der katholischen Einheit des kirchlichen Lebens und im kirchlichen Glaubensbewußtsein vereinigt und damit zugleich auch den Christen vor der religiösen   Isoliertheit   und Vereinsamung  bewahrt. Endlich ist das Dogma nicht nur ein Schutz vor jeder Häresie, obgleich es gewöhnlich im Kampf gegen die Irrlehrer formuliert worden ist und deshalb als kirchliche Schutzmaßnahme oder sozusagen als Warnungstafel für die Kinder der Kirche diente und auch heute noch dient. Die Bedeutung des Dogmas besteht auch darin, daß es das praktische religiös-sittliche <30> Leben der Christen bestimmt. Das Dogma ist »ein praktischer Regulator des bewußten Willens« (P. Kalenow).

Die Grundidee des Christentums, dessen Wesen und Sinn, ist das Heil der Menschheit durch die göttliche Liebe, Inkarnation, Tod und Auferstehung Christi. Mit dieser Idee ist jedes Dogma organisch verbunden; es entfaltet sie und trägt zu ihrer Realisierung bei. Das Dogma begründet das christliche sittliche Leben. Das Dogma von der Allerheiligsten Dreieinigkeit ist die Grundlage der christlichen Liebe und der wesentlichen Einheit aller Gläubigen in der Kirche — dem mystischen Leibe Christi. Das Dogma von der Inkarnation des Göttlichen Logos und vom Gottmenschen gibt dem Gläubigen das konkrete Vorbild und lebendige Ideal wahrer Menschlichkeit und christlichen Tugendlebens. So haben alle Dogmen sittliche Bedeutung, lenken und beseelen das sittliche Leben, begründen die christliche Frömmigkeit, fördern das Wachsen im geistlichen Leben. Alle christlichen Gebote und Tugenden haben ihre Grundlage, Rechtfertigung und ihren höheren Sinn in den Dogmen. Anders kann es auch nicht sein, denn die Wahrheit muß auch für das praktische sittliche Leben Bedeutung haben, dem Leben höheren Sinn geben, das Menschen leben verklären. Andererseits ist die Tätigkeit nicht von der Vorstellung zu trennen; jede religiöse Handlung setzt eine Idee voraus. Selbstverständlich hat diese orthodoxe Anschauung nichts mit der voluntaristisch-pragmatischen Auffassung des Dogmas der französischen Modernisten Le Roy, Laberthonnière und anderer zu tun, denn der orthodoxe Theologe ist ja davon überzeugt, daß dem Dogma als praktischem sittlichen Postulat eine reale Tatsache entspricht, und daß zwischen dieser Tatsache und dem sittlichen Gebot eine innere, wesentliche, reale Einheit besteht.

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Quelle und Grundlage der orthodoxen Glaubenslehre

Als Quelle und Grundlage der Glaubenswahrheiten betrachtet die orthodoxe Kirche die göttliche Offenbarung, die in der Heiligen Schrift und der heiligen kirchlichen Tradition enthalten ist.

Zur Heiligen Schrift gehören zunächst diejenigen 22 Bücher, die schon in der Alttestamentlichen Kirche als von Gott inspirierte Schriften anerkannt waren, und dann alle im Neuen Testament vereinigten 27 apostolischen Bücher. Was die sogenannten alttestamentlichen Apokryphen anbetrifft, so ist deren Wert im Laufe der Jahrhunderte verschieden geschätzt worden. Gegenwärtig betrachten viele Theologen der orthodoxen Kirche als inspirierte kanonische Bücher der Alttestamentlichen Heiligen Schriften nur die 22 hebräischen, im vorchristlichen Judentum anerkannten Bücher. Bezüglich der Apokryphen (das Buch Tobias, das Buch Judith, die Weisheit Salomos, das Buch Jesus Sirach und die drei Bücher der Makkabäer) bekennen sie sich zur Ansicht des hl. Athanasius des Großen, d. h. betrachten sie als fromme Schriften, die zur Belehrung und Erbauung nützlich sind und deshalb zum Lesen empfohlen werden. So auch im russisch-orthodoxen »Ausführlichen Katechismus« des Metropoliten Philaret. Hierzu muß aber bemerkt werden, daß zwei Synoden, die 1642 und 1672 in Konstantinopel stattfanden, und ebenso die von allen orthodoxen Patriarchen bestätigte Confessio Dosithei auch die apokryphen oder deutero-kanonischen alttestamentlichen Schriften als zum Kanon gehörig erklärt haben.

Von der Heiligen Schrift wird gewöhnlich die heilige Tradition unterschieden und als zweite Quelle der Glaubenswahrheiten bezeichnet. Eine derartige Unterscheidung und Nebeneinanderstellung kann aber geradezu sinnlos sein, denn die Tradition der christlichen Kirche ist ja die ursprüngliche Quelle und Grundlage des Glaubens und chronologisch älter <32> als die Heilige Schrift. Die Bücher des Neuen Testamentes sind zu verschiedenen Zeiten entstanden und erst nach und nach in allgemein-kirchlichen Gebrauch gekommen, wie die Geschichte des Kanons der Bibel beweist. Der kanonische Wert der einzelnen neutestamentlichen Schriften wurde nach dem Zeugnis der kirchlichen Überlieferung bestimmt; die kirchliche Tradition war das Kriterium der heiligen Bücher des Neuen Testamentes.

Es ist üblich, die Tradition als mündliche Überlieferung der Kirche zu bezeichnen. Im Laufe der Zeit ist aber die Tradition auch schriftlich fixiert worden. Zeugnisse der kirchlichen Tradition sind: die Schriften der apostolischen Väter und späteren Lehrer der Kirche, die dogmatischen Definitionen der sieben ökumenischen Konzile, die von der orthodoxen Kirche anerkannten Glaubenssymbole, von denen das nicäno-konstantinopolitanische Symbol am meisten gebraucht wird. Im »Buch der Kanones der hl. Apostel, hl. ökumenischen und lokalen Konzile und der hl. Väter« sind die »Dogmen« des 4., 6. und 7. ökumenischen Konzils an erster Stelle wiedergegeben. Anerkannt ist auch das sogenannte Athanasianische Symbol; außerdem befinden sich im orthodoxen Ritus der Bischofsweihe neben dem nicäno-konstantinopolitanischen Symbol noch zwei ausführliche Bekenntnisse des orthodoxen Glaubens. Eines der wichtigsten Zeugnisse der kirchlichen Tradition sind endlich die liturgischen Bücher der orthodoxen Kirche, in denen bis heute nicht nur das Gebetsleben, sondern auch das Glaubensbekenntnis der altchristlichen Kirche bewahrt ist.

Es muß aber ausdrücklich darauf hingewiesen werden, daß in der orthodoxen Kirche die Tradition, wie sich F. Heiler richtig ausdrückt, »keine mechanische Weitergabe eines feststehenden Formelschatzes, sondern ein unerschöpflicher Lebensstrom« ist. Der griechisch-orthodoxe Theologe Bratsiotis führt aus, daß die Tradition »das lebendige Band mit der Fülle der kirchlichen Erfahrung« ist. Die Tradition ist also <33> kein statischer, sondern ein dynamischer Begriff; Der russische Philosoph Simeon Frank spricht vom Traditionalismus, daß er »die Ehrfurcht vor der überzeitlichen Einheit der Geschichte, als gottmenschlichen Prozesses, und die sich hieraus ergebende Hochachtung vor der ganzen Vergangenheit« ist. Deshalb muß auch die Kirche das von der alten Kirche erhaltene Erbe, in dem die Fülle der Heilswahrheiten bewahrt und dargelegt ist, treu bewahren.

Die Heilige Schrift ist Eigentum der Kirche; ihre Autorität beruht auf der Anerkennung der Kirche, die den Kanon der hl. Bücher sanktioniert hat. Die heilige Tradition ist das Zeugnis der Kirche, ihres apostolischen Glaubensbekenntnisses; nur als Zeugnis der Kirche hat sie autoritativen Wert. Also ist in Wirklichkeit die wahre Quelle und Grundlage der christlichen Glaubenswahrheiten die ökumenische Kirche. Nur die Kirche ist nach den Worten des hl. Apostels Paulus »die Säule und Grundfeste der Wahrheit« (1. Tim. 3,15); nur sie ist die Hüterin der göttlichen Offenbarung, nur sie kann demnach einer Lehre die Autorität einer göttlichen Wahrheit mitteilen. Deshalb haben schon die alten Väter die Dogmen »Dogmen der Kirche« genannt. Auch eine von einem Konzil formulierte Lehre ist erst dann Dogma, wenn sie von der ökumenischen Kirche als solches angenommen wird. Auch ein Konzil ist nur dann ein ökumenisches, wenn es von der Kirche als solches anerkannt wird. Das Entscheidende ist also der consensus ecclesiae.

Die Lehre von der Allerheilisten Trias

Wie für die abendländische Christenheit, so ist auch nach dem Glauben der orthodoxen Kirche das wichtigste und grundlegende Dogma die Lehre von Gott. Gott ist der Eine dem Wesen nach, aber dreifaltig in den drei Personen Vater, Sohn und Heiliger Geist. Alle drei Personen sind untrennbar <34> in der einen Wesenheit verbunden. Sie durchdringen sich gegenseitig, wohnen sich gegenseitig ein. Sie haben ein gemeinsames Wesen, aber so, daß jede Person die ganze Wesenheit in aller Vollkommenheit hat, d. h. mit ihren Eigenschaften der Allmacht, Allgegenwärtigkeit, Allwissenheit, Güte usw. Da das Wesen allen drei Personen gemeinsam ist, so ist auch die göttliche, nach außen gerichtete Tätigkeit allen drei Personen gemeinsam. »Ich glaube an Einen Gott, in drei Personen geteilt, den Vater, sage ich, und den Sohn, und den Heiligen Geist; geteilt, sage ich, mit Rücksicht auf die Eigenheit, ungeteilt aber nach der Wesenheit. Und die ganze Dreifaltigkeit ist dieselbe, und die ganze Einheit dieselbe. Einheit nach dem Wesen, der Natur und der Form, Dreiheit aber nach den Eigenheiten und der Benennung«, spricht der Kandidat für das Bischofsamt im zweiten Bekenntnis vor der Weihe. Im Großen Bußkanon wird gebetet: »Als unzertrennlich dem Wesen nach, unvermischbar den Personen nach, verkünde ich Dich, die dreifaltige, einige Gottheit, als gemeinsam thronend...«

Die drei Personen der Allerheiligsten Trias unterscheiden sich in ihren persönlichen Eigenschaften. Gott der Vater ist anfanglos, von niemandem geboren und von niemandem ausgehend; Gott der Sohn wird von Ewigkeit von Gott dem Vater geboren; Gott der Heilige Geist geht von Ewigkeit von Gott dem Vater aus. Aber trotz dieser verschiedenen Eigenschaften, in denen sich die drei Hypostasen unterscheiden, ist doch nur ein Gott. »Die ganze Dreifaltigkeit ist dieselbe und die ganze Einheit dieselbe. Einheit nach dem Wesen, der Natur und der Form, Dreiheit aber nach den Eigenheiten und der Benennung. Denn genannt wird der zwar Vater, der aber Sohn, der aber Heiliger Geist. Der Vater ungezeugt und ohne Anfang, weil Er nicht aus Etwas das Sein hat, als aus Sich Selbst. Ich glaube aber, daß der Vater die Ursache ist des Sohnes und des Geistes, des Sohnes durch die Zeugung, des Heiligen Geistes durch den Ausgang, indem keine Teilung <35> oder Änderung in ihnen betrachtet wird, als allein der Unterschied der hypostatischen Eigenheiten.... Und so verkünde ich Ein Prinzip und erkenne den Vater als Ein Ursächliches an — des Sohnes und des Geistes ... Nicht ist der Vater getrennt vom Sohne, noch der Sohn vom Geiste, noch der Heilige Geist vom Vater und Sohne. Sondern ganz ist der Vater im Sohne und im Heiligen Geiste, und ganz ist der Heilige Geist in dem Vater und dem Sohne; denn Sie sind Eins in der Trennung und getrennt in der Einheit.« (Bischofschirotonie, Zweites Bekenntnis).

Die orthodoxe Kirche erkennt das im Abendland in das Glaubensbekenntnis eingefügte »filioque« nicht an. Sie bekennt, wie schon bemerkt, daß Gott der Vater das alleinige Prinzip, der alleinige Ursprung, die alleinige Ursache wie des Sohnes, so auch des Heiligen Geistes ist. Sie unterscheidet zwischen dem ewigen Ausgang des Heiligen Geistes vom Vater und dem zeitlichen Ausgang des Heiligen Geistes auch vom Sohne, oder, genauer gesagt, der zeitlichen Sendung des Heiligen Geistes in die Welt auch vom Sohne. Bezüglich dieser zeitlichen Sendung des vom Vater ausgehenden Heiligen Geistes spricht die orthodoxe Theologie: »Der Heilige Geist geht aus vom Vater durch den Sohn.« Dieser Gedanke findet seinen Ausdruck auch in den liturgischen Texten, wo nicht selten gesagt ist, daß »der Heilige Geist im Sohne ruht und durch Ihn in der Welt erscheint«. Der hl. Johannes von Damaskus hat in seiner »Genauen Darlegung des orthodoxen Glaubens« geschrieben: »Der Heilige Geist ist die das Verborgene der Gottheit offenbarende Macht des Vaters, die aus dem Vater durch den Sohn hervorgeht.« »Der Vater ist Quelle und Grund des Sohnes und Heiligen Geistes, Vater aber nur des Sohnes und Hervorbringer des Heiligen Geistes... Nicht Sohn aber des Vaters ist der Heilige Geist, sondern Geist des Vaters, als vom Vater ausgehend; denn keine Betätigung ist ohne den Heiligen Geist; aber auch des Sohnes Geist ist Er, nicht als aus Ihm, sondern als durch Ihn <36> vom Vater ausgehend. Denn Grund ist nur der Vater.« (I, c. 12; Vergl. I, 8).

Auf Grund des 7. Kanons des ökumenischen Konzils in Ephesus hält sich die orthodoxe Theologie nicht für berechtigt, dem nicäno-konstantinopolitanischen Symbol den Zusatz »filioque« hinzuzufügen, denn dieser Zusatz bedeutet schon einen anderen Glauben als den, den die Väter des 1. und 2. ökumenischen Konzils in dem von ihnen angenommenen Symbol bekannt haben. Hat doch auch der Herr und Heiland Jesus Christus klar und deutlich zu seinen Jüngern gesagt: »Wenn aber der Tröster kommt, den Ich euch vom Vater senden werde, der Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht, wird er Zeugnis von Mir geben.« (Joh. 15, 26).

In seiner Schrift »Genaue Darlegung des Orthodoxen Glaubens« weist der hl. Johannes von Damaskus schon im ersten Buch auf die Unbegreiflichkeit der Gottheit hin: »Unaussprechlich ist die Gottheit und unbegreiflich.« (I, c. 1). »Daß Gott ist, ist klar; was Er aber ist seiner Wesenheit und Natur nach, das ist ganz unerfaßbar und unerkennbar.« (I, c. 4). Auch die Unkörperlichkeit »ist nicht das Seine Wesenheit Konstituierende, wie auch nicht das Ungewordensein und die Anfanglosigkeit, die Unveränderlidikeit und Unvergänglidikeit und was sonst von Gott oder in Bezug auf Gott ausgesagt wird. Denn dieses bezeichnet nicht, was Er ist, sondern was Er nicht ist. Wer aber die Wesenheit von etwas nennen will, muß sagen, was es ist, nicht was es nicht ist. Gleichwohl ist es bei Gott zu sagen unmöglich, was Er der Wesenheit nach ist; geeigneter aber ist es vielmehr, durch Hinwegnahme von allem die Beschreibung zu machen. Denn Er ist nichts von dem, was ist; nicht als ob Er nicht wäre, sondern weil Er über allem Seienden und über dem Sein selbst ist.« »Was wir in bejahender Weise von Gott sagen, bezeichnet nicht Seine Natur, sondern die Beziehungen Seiner Natur.« (I, c. 4). Diese Ausführungen des hl. Johannes von Damaskus sind nur Wiederholungen dessen, was von den alten östlichen <37> Kirchenlehrern Basilika dem Großen, Gregor von Nyssa und in den pseudoareopagitischen Schriften dargelegt war. Obgleich also die Lehre in der patristischen Theologie genügend begründet war, wurde sie doch im »Hesychastenstreit«, der von dem kalabrischen Mönch Barlaam angestiftet war, von neuem erörtert. Zwei lokale Synoden, die in Konstantinopel in den Jahren 1351 und 1352 stattgefunden hatten, definierten die orthodoxe Lehre von Gott.

In der Lehre vom dreieinigen Gott unterscheidet die orthodoxe Kirche das Wesen Gottes und die Energien der Gottheit[1]. Seinem Wesen nach ist Gott in Seinem Selbst dem geschaffenen Sein gegenüber absolut transzendent und unerkennbar, unbegreifbar und unbeschreibbar. Er kann auch mit keinem Namen genannt, mit keinem Begriff bestimmt werden; es kann überhaupt keine positive oder negative Aussage über Ihn gemacht werden; Er überragt alles. Deshalb spricht der hl. Gregor Palamas sogar nicht von der »Wesenheit«, sondern von der »Überwesenheit« Gottes. Auch der Begriff des »Seins« ist auf Gott nicht anwendbar, denn Gott ist ja der Schöpfer des Seins und steht als solcher über dem Sein. Der über alles erhabene, alles überragende Gott ist aber doch der Welt immanent, nämlich in Seinen Energien; in diesen offenbart Er sich der Welt und wirkt in der Welt. Jedes geschaffene Sein existiert überhaupt nur, weil es an den göttlichen Energien teil hat. Gott ist in Seinen Energien das Sein aller Wesen. Durch Teilnahme an den Energien kann sich das Geschöpf Gott nahen und mit ihm in Gemeinschaft treten. Die Energien sind von der Wesenheit nicht zu trennen. Sie sind deshalb ebenso wie das Wesen Gottes, dessen Erscheinung sie sind, ungeschaffen und ewig. In den Akten der Synode von Konstantinopel vom Jahre 1351 ist gesagt: »Wir denken sie (die Energie) nicht als außerhalb der göttlichen Wesenheit befindlich, sondern... sagen, daß sie aus der göttlichen Wesenheit wie einem ewigen Quell entfließt und entspringt und ohne diesen nie wahrgenommen wird. Sie bleibt <38> mit der göttlichen Wesenheit untrennbar verbunden, koexistiert von Ewigkeit mit ihr und ist untrennbar mit ihr vereint.« Deshalb wird die Energie auch mit dem Terminus »Gottheit« bezeichnet. In denselben Synodalakten wird bemerkt: »Nicht die Wesenheit, sondern die schaubare Energie wird mit dem Namen «Gottheit» zum Ausdruck gebracht...« Die Energie ist also keine besondere Hypostase, da sie ja nicht getrennt von der Wesenheit Gottes existiert. Das Verhältnis von »Wesenheit« und »Energie« versteht der hl. Gregor Palamas im Sinne des Verhältnisses von Ursache und Wirkung; allerdings ist dieses Kausalverhältnis nur auf »gottentsprechende« Art zu denken. Es gibt zahllose göttliche Energien, die auch mit dem Terminus »Gnade« bezeichnet werden. Aber alle Energien sind allen drei Personen der Allerheiligsten Trias in Ihrer Ganzheit gemeinsam, da ja alle drei Personen eines Wesens sind. Gott der Sohn und Gott der Heilige Geist besitzen die ganze Energiefülle Gottes des Vaters. Jede Energie ist deshalb eine Theophanie des ganzen Gottes.

Die göttliche Wesenheit ist unteilbar, nicht mitteilbar, und übersteigt, wie schon gesagt, jeden Namen und Begriff. Die Energie ist aber mitteilbar, kann unteilbar geteilt sein, ist in Namen ausdrückbar und läßt sich aus ihren Wirkungen gedanklich erfassen (Beschluß der Synode von 1351). — Anders kann es auch nicht sein, denn wenn das Geschöpf an der Wesenheit Gottes teilnehmen könnte, würde es durch die Teilnahme selbst zur göttlichen Person werden; die Grenze zwischen dem Schöpfer und Geschöpf wäre vernichtet. Dies würde notwendig zum Pantheismus führen. Wenn der hl. Apostel Petrus spricht, der Christ solle der göttlichen Natur teilhaftig werden, so kann dies nicht bedeuten, der Christ solle oder könne an der göttlichen Wesenheit teilnehmen. Hier kann nur von der Teilnahme an der von der göttlichen Wahrheit nicht abtrennbaren göttlichen Energie die Rede sein. Die göttlichen Energien sind also »Gott selbst in Seinem Wirken und Seiner Offenbarung der Welt gegenüber«; »in den Energien oder Tätigkeiten geht Gott nach außen hervor, offenbart sich, teilt sich mit, schenkt sich.« In den Energien »nimmt das Geschöpf real an der Gottheit selbst teil und Gott ist in ihnen der Schöpfung gegenwärtig.« (Mönch Wassilij, a.a.O. SS. 52, 53, 61; und W. Lossky S. »Geist und Leben«, Dezember 1947, S. 290).

In diesen Glaubenslehren drückt sich die vorwiegend apophatische Theologie des orthodoxen Orients im Unterschied zu der vorwiegend kataphatischen Theologie der römischkatholischen Kirche aus. Derartige Gedanken sind aber auch den mittelalterlichen westlichen Mystikern und manchen gegenwärtigen protestantischen Theologen nicht fremd.

Diese Lehre von der Wesenheit Gottes und den göttlichen Energien bestimmt auch die Auffassung der Gnade. Wie schon gesagt, wird die göttliche Energie auch mit dem Termin »Gnade« bezeichnet. Die Gnade ist die göttliche Energie, die sich im Menschen offenbarende unmittelbare Wirkung göttlicher Kraft; sie ist also etwas Göttliches und Ungeschaffenes. Es gibt vielgestaltige und mannigfache Wirkungen der göttlichen Gnade. Wer die göttliche Kraft empfängt, der vergöttlichenden Energie teilhaftig wird, tritt in wahrhafte Gemeinschaft mit Gott, vereinigt sich mit Gott und wird vergottet. »Die Gnade bedeutet im allgemeinen für die Überlieferung der Ostkirche den ganzen Reichtum der göttlichen Natur, insoweit sie sich den Menschen mitteilt; es ist die Gottheit, die vom Wesen aus nach außen hervorgeht und sich schenkt — die göttliche Natur, an der man in den Energien teilnimmt.« (W. Lossky, S. »Geist und Leben«, Dez. 1947, S. 291 f.). »Nur auf Grund dieser Lehre kann man folgerichtig die Wirklichkeit einer Gottgemeinschaft des Menschen und die Realität einer Vergottung bejahen, ohne dabei Gefahr zu laufen, pantheistisch das Geschöpf mit der Gottheit zu verschmelzen; eine Gefahr, die sich unausweichlich bei einer Identifizierung von Wesenheit und Energie in Gott auftut.« (Mönch Wassilij, a. a. O. S. 90).

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Anthropologie

In der Lehre vom Menschen — dessen Schöpfung, dem Sündenfall und den Folgen desselben — unterscheidet sich die orthodoxe Kirche nur wenig von den Lehren der westlichen Bekenntnisse.

Der erstgeschaffene Mensch

Der erste Mensch ist von Gott geschaffen als Wesen, das aus Seele und Leib besteht. Der Leib ist von der Erde genommen, gehört also der materiellen Welt an. Die Seele stammt von Gott, ist dem ersten Menschen vom Schöpfer eingehaucht worden. »Zum Ursprung und Sein ist mir geworden Dein schöpferisches Wort,« heißt es im Begräbnisritus, »denn Du hast gewollt, daß ich ein lebendiges Wesen würde, aus sichtbarer und unsichtbarer Natur zusammengesetzt; darum hast Du meinen Leib aus Erde gebildet und mir die Seele durch Deinen göttlichen und belebenden Odem gegeben.« In diesen Worten ist klar gesagt, daß die Schaffung des Menschen ein besonderer Akt des schöpferischen Wortes Gottes gewesen und er als geistiges Wesen göttlicher Herkunft ist.

Von den Eigenschaften des erstgeschaffenen Menschen schreibt der hl. Johannes von Damaskus: »Es machte also Gott den Menschen unschuldig, rechtschaffen, tüchtig, unbetrübt, unbesorgt, aller Tugend sich erfreuend, mit allen Gütern geschmückt, gleichsam eine zweite Welt, in der großen eine kleine, einen anderen anbetenden Engel, gemischt, Beschauer der sichtbaren Schöpfung, Kenner der geistigen, Herrscher der irdischen Dinge, beherrscht von oben, irdisch und himmlisch, zeitlich und unsterblich, sichtbar und geistig, in der Mitte stehend zwischen Größe und Niedrigkeit, zugleich Geist und Fleisch, Geist durch Gnade. . .« (Genaue Darlegung des orthodoxen Glaubens, II, 12). Die höchste Würde des <41> erstgeschaffenen Menschen bestand aber darin, daß er nach Gottes Bild und Ebenbild geschaffen war. »Nach Deinem Bilde und Gleichnisse hast Du am Anfang den Menschen gebildet und ihn ins Paradies gesetzt, zu herrschen über Deine Geschöpfe.« (Begräbnisritus für Laien.) Die Worte »nach dem Bilde« bedeuten, wie der hl. Johannes von Damaskus bemerkt, »die Denkkraft und Willensfreiheit«, die Worte »nach dem Gleichnisse« bedeuten »die Ähnlichkeit der Tugend, soweit sie möglich ist«. (Genaue Darlegung des orthodoxen Glaubens, II, 12). Die Berufung des erstgeschaffenen Menschen bestand in der Verherrlichung Gottes: »Darauf machtest Du mich zum vernunftbegabten Lebewesen, damit ich verherrlichen sollte, o Allmächtiger, Deinen heiligen Namen.« (Sonntag, Abendgottesdienst, 1. Ton). Das Ziel der Schaffung des Menschen war dessen Vergöttlichung. Eingedenk dieser hohen Stellung, Würde und Berufung des Menschen singt die orthodoxe Kirche im Sonntags-Abendgottesdienst (1.Ton): »Gedenke, o fluchbeladene Seele, deines göttlichen Ursprunges und deiner unvergänglichen Heimat.. . Du bist überirdischen Wesens.«

Der Sündenfall

Zum Zwecke der Übung, Entwicklung und Befestigung der geistigen Kräfte im Guten gab Gott den ersten Menschen das Verbot, vom Baume der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen. »Aber durch den Neid des Teufels verlockt, genoß er von der Speise, ist er ein Übertreter Deiner Gebote geworden« (Freitag, Abendgottesdienst, 7. Ton). In den liturgischen Büchern der orthodoxen Kirche ist aber nicht nur vom Ungehorsam, dem Sündenfall und der Schuld Adams und Evas die Rede, sondern auch von der Teilnahme am Sündenfall, der Ursünde und der Mitschuld aller Menschen, aller Nachkommen des ersten Menschenpaares. Alle Menschen aller Zeiten haben in Adam mitgesündigt, sind ebenso schuld und <42> verdienen Strafe. Diese Gleichsetzung und Solidarisierung aller Menschengeschlechter mit den ersten Menschen gründet sich auf die bekannten Worte des Apostels Paulus: »Wie demnach durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist, und durch die Sünde der Tod, und so der Tod auf alle Menschen übergegangen ist, weil alle gesündigt haben.« (Röm. 5, 12).

Folgen des Sündenfalles

Der Sündenfall hatte verheerende Folgen. Die ersten Menschen erkannten ihre Nacktheit und fühlten Scham. Sie wurden »aus dem Paradies in diese Welt vertrieben« (Eucharistisches Gebet der Basilius-Liturgie). Die Gemeinschaft mit der höheren geistigen Welt wurde unterbrochen. Außerhalb des Paradieses wurde der Mensch zu schwerer Arbeit verurteilt; »im Schweiße seines Angesichtes« muß er sein tägliches Brot essen; die Frau soll mit Schmerzen Kinder gebären. Selbst die Erde wurde in die Folgen des Sündenfalles hineingezogen und zu einem dem Menschen feindlichen Element. Die ganze Natur des Menschen wurde verdorben. »Befleckt habe ich mein Fleischgewand, besudelt Dein Bild und Gleichnis, o Heiland, verfinstert habe ich der Seele Lieblichkeit durch der Leidenschaft Lüste.« (Abendgottesdienst am Sonntag der ersten Fastenwoche). Endlich ging der Mensch der Unsterblichkeit verlustig und wurde zum Opfer des Todes. Der Mensch wurde verurteilt, »wieder zur Erde, aus welcher er genommen war, zurückzukehren.« (Freitag, Abendgottesdienst, 7. Ton). Vergehen und Verwesung ist das Schicksal des gefallenen Menschen, wie dies der hl. Johannes von Damaskus so ergreifend in seinen Totengesängen ausgedrückt hat: »Was ist unser Leben? Eine Blume, ein Dunst, wahrlich ein Morgentau! Kommet denn, lasset uns deutlich an den Gräbern sehen: Wo ist die Schönheit des Körpers hin? Wo die Jugend? Wo sind die Augen und die Gestalt des Leibes? Alles ist verwelkt <43> wie Gras! Alles ist verschwunden!« »Kommet, ihr Nachkommen Adams, sehet, wie niedergestreckt zur Erde ist unser Ebenbild, wie es alle Anmut verloren hat; wie es im Grabe bald aufgelöst, durch das Nagen der Würmer, durch die Finsternis verzehrt, mit Erde bedeckt wird.« »Fürwahr, eitel und vergänglich ist alles Liebliche und Herrliche des Lebens. Wir alle vergehen; wir alle unterliegen dem Tode...«

Obgleich aber »die in den Gräbern liegende, und nach dem Bilde Gottes  anerschaffene Schönheit entstellt, häßlich, gestaltlos« ist, ist dieses Bild nicht gänzlich verloren gegangen. Auch in seiner gefallenen, verdorbenen Natur betet der Christ: »Ich bin das Bild Deiner unaussprechlichen Herrlichkeit, ob ich gleich die Wunden der Sünde trage... O  führe mich wieder zur vormaligen Ähnlichkeit zurück, auf daß meine ursprüngliche Schönheit wieder hergestellt werde.« (Begräbnisritus für Laien).   Wirklich  hat  auch   der menschenliebende Gott den gefallenen Menschen gerettet, indem Er »ihm durch die Wiedergeburt die Erlösung in Christus selbst angeordnet hat.« (Eucharistisches Gebet der Basilius-Liturgie). über die einzelnen Momente   der Geschichte   dieses Mysteriums der Erlösung des  Menschengeschlechtes   ist   im   eucharistischen Kanon  der Basilius-Liturgie-» folgendes  gesagt:   »...Nicht hast Du verworfen Dein Gebilde für immer,   welches   Du erschaffen   hast,   o Gütiger,   und hast nicht vergessen die Werke  Deiner  Hände,   sondern heimgesucht  auf  vielfache Weise  aus  der  Gnade  Deiner  Gütigkeit.   Die   Propheten sandtest Du, wirktest Krafttaten durch Deine Heiligen, welche Dir nach jedem Geschlechte wohlgefielen.   Du redetest zu ihnen durch den Mund Deiner Diener, verheißend uns die kommende Erlösung. Das Gesetz gäbest Du zur Hilfe; Engel setztest Du zu Hütern ein. Als aber kam die Fülle der Zeiten, redetest Du zu uns in Deinem Sohne selbst, durch den Du auch die Ewigkeiten  erschaffen hast,  der  als  der Abglanz Deiner Herrlichkeit und das Gepräge Deiner Hypostasis, und tragend das All durch das Wort Seiner Kraft, es nicht für <44> einen Raub hielt, gleich zu sein Dir, dem Gott und Vater, sondern, obwohl Er der vorewige Gott war, ist Er auf Erden erschienen und hat mit den Menschen verkehrt, und, aus der heiligen Jungfrau Fleisch geworden, entäußerte Er sich selbst, nahm Knechtsgestalt an und ward gleichgestaltet dem Leibe unserer Niedrigkeit, um uns dem Leibe seiner Herrlichkeit gleichgestaltet zu machen. Denn, weil durch den Menschen die Sünde gekommen war in die Welt und durch die Sünde der Tod, so geruhte Dein einzig gezeugter Sohn, seiend in Deinem, des Gottes und Vaters Schöße, von einem Weibe, der heiligen Gottesgebärerin und Immerjungfrau Maria geboren und dem Gesetze unterworfen, die Sünde in Seinem Fleische zu richten, damit die, so in Adam sterben, durch denselben Deinen Christos lebendig werden...«

Christologie

Das christologische Dogma der orthodoxen Kirche ist dasselbe, zu dem sich auch die abendländischen Kirchen bekennen. »Ich glaube... an Einen Herrn Jesum Christum, den Eingeborenen Sohn Gottes, den vom Vater Gezeugten vor allen Ewigkeiten... , Der um uns Menschen und um unserer Erlösung willen von den Himmeln herabgekommen, und Fleisch geworden vom Heiligen Geist und der Jungfrau Maria, und Mensch geworden ist,« bekennt die orthodoxe Kirche im nicäno-konstantinopolitanischen Symbol. Der Glaube an die jungfräuliche Geburt des Sohnes Gottes und Herrn und Heilandes Jesu Christi von der Gottesgebärerin und Jungfrau Maria ist in allen Bekenntnissen und liturgischen Büchern der orthodoxen Kirche klar und deutlich ausgesprochen. »Christus allein durchschritt das undurchschreitbare Land, ohne daß es besät war... Jesum gebar die unschuldvolle Jungfrau durch Überschattung des Göttlichen Vaters und Geistes.« (Andacht zum hl. Johannes dem Täufer).

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Im Gottmenschen Jesus Christus sind zwei Naturen, die göttliche und menschliche, in einer Hypostasis vereinigt. »Ich bekenne Eine Hypostasis des menschgewordenen Wortes, und ich glaube und verkündige, daß Ein und derselbe Christus ist in zwei Willen und Naturen nach der Menschwerdung, bewahrend   dieselben,   in   denen   und   aus   denen   Er   kam.« (Bischofsweihe, drittes Bekenntnis). »Der außerhalb aller Zeit aus dem Vater hervorstrahlende einziggezeugte Sohn, Er selbst kam aus Dir (allheilige Jungfrau), der Unschuldvollen, hervor, auf unaussprechliche Weise Fleisch geworden, welcher der Natur nach Gott ist und der Natur nach Mensch geworden ist um unsertwillen; nicht in zwei Personen geteilt, sondern in zwei Naturen unvermischt erkannt.« (Dogmatik, 6. Ton). »... Indem Er aus der reinen Jungfrau das Fleisch genommen hat und aus dieser hervorgekommen ist mit dem Angenommenen, ist Er, der Sohn, zweifach nach der Natur, aber nicht nach der Person. Deshalb Ihn als vollkommenen Gott und vollkommenen Menschen in Wahrheit verkündigend, bekennen wir Christum als unseren Gott.« (Dogmatik, 8. Ton). Ebenso bekennt auch die orthodoxe Kirche zwei Willen und zwei Wirksamkeiten in Christo: »Ich bekenne auch zwei Willen, einen eigenen Willen jeder Natur, deren jede ihre eigene Wirksamkeit  besitzt.«    (Bischofsweihe,   drittes   Bekenntnis). Es ist auch orthodoxer Glaube, daß die menschliche Natur in Christo infolge der hypostatischen Union mit der göttlichen Natur vergottet worden ist. Das bedeutet aber nicht, wie der hl. Johannes von Damaskus ausdrücklich bemerkt, daß die Natur des Fleisches Christi eine Wandlung oder Veränderung oder Vermischung mit der göttlichen Natur erfahren habe. Die Vergottung ist eine Folge der hypostatischen Union, nach welcher das  Fleisch  »unzertrennlich mit Gott dem Worte geeint ist«. Ebenso und aus demselben Grunde wurde auch der menschliche Wille Christi vergottet, »nicht als ob seine natürliche Bewegung verwandelt worden wäre, sondern weil sie vereint ward mit Seinem göttlichen und allmächtigen Willen <46> und derselbe Wille des menschgewordenen Gottes wurde.« (Genaue Darlegung des orthodoxen Glaubens, III,  18).

Fr. Heiler bemerkt in seinem Werke »Urkirche und Ostkirche« (München 1937, S. 202 f.): »Die Christologie ist das Hauptthema der östlichen Theologie des ersten Jahrtausends. Nahezu alle dogmatischen Entscheidungen der ökumenischen Konzile betreffen die Lehre über Christus... Mit der wunderbaren Schärfe des Gedankens und des Ausdruckes, deren griechischer Geist und griechische Sprache fähig waren — obgleich mit gelegentlicher abendländischer Unterstützung — hat die griechische Dogmatik das überbegriffliche und unaussprechliche Mysterium des Gottmenschen in theologische Formeln gebracht, die nicht esoterische Weisheit der Theologie blieben, sondern im mystagogischen Kult Besitz des gläubigen Volkes wurden. Scheinbar eine Schöpfung griechischen Intellekts und griechischer Dialektik, soll das christologische Dogma letzten Endes nur dazu dienen, das Mysterium der Heil und Vergottung schenkenden Menschwerdung des Logos in seinem übervernünftigen Wundercharakter gegen alle rationale Auflösung oder Schwächung zu sichern.«

Die Allerheiligste Jungfrau und Gottesgebärerin Maria

Es ist nur eine Folgerung aus der Lehre von der hypostatischen Union der göttlichen und menschlichen Natur in Christo, wenn die orthodoxe Kirche lehrt, daß die allerheiligste Jungfrau Maria nicht nur den Menschen, sondern den Gottmenschen Jesus Christus geboren hat und deshalb mit Recht »Gottesgebärerin« genannt wird. »Nicht einen körperlosen Gott, auch wiederum nicht einen bloßen Menschen hat die unschuldige und erhabene Jungfrau hervorgebracht, sondern einen vollkommenen Menschen und untrüglichen, <47> vollkommenen Gott.« Deshalb verehrt und preist die orthodoxe Kirche die allerheiligste Gottesgebärerin und Jungfrau Maria.

Die orthodoxe Kirche nennt die Gottesgebärerin Maria auch »Immerjungfrau«, da sie sowohl vor, als auch in und nach der Geburt Jesu Christi Jungfrau gewesen und geblieben ist. »Siehe, erfüllt ist die Weissagung des Jesaja: denn als Jungfrau gebarst du, und bliebst auch nach der Geburt wie vor der Geburt. Denn Gott war der Geborene, deshalb erneuerte er auch die Natur.« (Samstag, Abendgottesdienst, 1. Ton).

Auf Grund dessen, daß die allerheiligste Jungfrau Maria den Gottmenschen und Heiland der Welt geboren hat und Dessen Mutter geworden ist, glaubt die orthodoxe Kirche, daß sie am Heilswerk Christi mitgewirkt hat. Sie ist »die Pforte des Heils der Welt« gewesen. Dadurch, daß sie Gottes Sohn in ihren Schoß aufgenommen hatte und mit der göttlichen Natur verbunden wurde, hat sie nicht nur sich selbst, sondern auch die ganze Welt erneuert, deren Vertreterin sie gewesen ist. »In deinem Schöße stellte der gelobte und hochverherrlichte Gott unserer Väter die ganze Welt völlig wieder her.« (Sonntag, Morgengottesdienst, 1. Ton). An anderen Stellen der orthodoxen gottesdienstlichen Bücher wird der Gläubige darauf hingewiesen, daß die allerheiligste Jungfrau Maria, infolge ihrer Blutsverwandtschaft mit dem Leibe Christi, in sich das Irdische mit dem Himmlischen verbunden hat. Durch die Jungfrau Maria sind alle Menschen Teilnehmer der göttlichen Natur geworden. Diese liturgischen Texte und die in ihnen enthaltenen Gedanken sind aber nur dann verständlich, wenn man in Betracht zieht, daß nach orthodoxer Anschauung die Menschheit eine Ganzheit, eine organische Einheit, eine Einheit in der Mehrheit, und die allerheiligste Jungfrau Maria die Vertreterin der Menschheit vor der Gottheit ist.

Endlich glaubt die orthodoxe Kirche, daß die allerheiligste Jungfrau, kraft ihrer hohen Würde und Teilnahme am Heils <48> werke Christi, unsere Fürbitterin vor Gott ist, daß sie, gleich einer liebenden Mutter, unsere Gebete aufnimmt und zu Gottes Thron emporträgt. Diese Kraft des Gebetes für uns ist eine ihr von Gott verliehene Gnadengabe. Die orthodoxen Christen wenden sich sogar direkt an Gott mit der Bitte, Er möge die Gebete der Gottesmutter für uns gnädigst entgegennehmen: »Zeige Deine Menschenliebe, o Barmherziger! Nimm an sie, die Dich geboren hat, die Gottesgebärerin, welche für uns bittet, und erlöse, unser Erlöser, das verzweifelte Volk.« (Samstag, Abendgottesdienst, 8. Ton).

Wie aus dem Gesagten zu sehen ist, ist die Verehrung der Mutter Gottes nur eine logische, dogmatische und praktische Folgerung aus der orthodoxen Christologie.

Das Erlösungswerk unseres Heilandes Jesu Christi

Die Inkarnation des Ewigen Logos, des Sohnes Gottes, ist die Fundamentaltatsache der evangelischen Geschichte, und das Dogma, in dem diese Tatsache formuliert ist, das Grunddogma des Glaubens und der Frömmigkeit. Warum ist aber der Sohn Gottes Mensch geworden? — Im nicäno-konslantinopolitanischen Glaubensbekenntnis ist kurz gesagt: »Der um uns Menschen und um unserer Erlösung willen von den Himmeln herabgekommen, und Fleisch geworden vom Heiligen Geiste und der Jungfrau Maria, und Mensch geworden ist.« Im Glaubensbekenntnis finden wir aber keine eindeutige Antwort auf die Frage: Wie, d. h. auf welche Weise, der Herr unser Heil, unsere Erlösung vollzogen hat.

 

In der Theologie der westlichen Bekenntnisse ist die juristische Auffassung der Erlösung des katholischen Theologen Anselm von Canterbury vorherrschend. Obgleich diese Auffassung auch in den dogmatischen Systemen vieler neuer orthodoxer Theologen Aufnahme gefunden hat, ist sie hier <49> doch ein Fremdkörper, da juristische Vorstellungen und Begriffe der Orthodoxie fremd sind. Fremd ist diese Auffassung auch den liturgischen Gebeten der orthodoxen Kirche. Deshalb haben namhafte orthodoxe Theologen die alte patristische Auffassung des Heilswerkes Christi wieder erneuert.

Fast alle hl. Väter und Lehrer der alten Kirche weisen darauf hin, daß das fleischgewordene Wort den Teufel besiegt und den Menschen aus der Gefangenschaft, in die er infolge des Sündenfalles geraten war, befreit hat. Schon der hl. Irenäus hat in seiner Schrift »Gegen die Häresien« geschrieben: »Durch den zweiten Menschen (d. h. Jesus Christus) hat Er (d. h. Gott) den Starken gebunden und seine Gefäße geplündert und den Tod vernichtet, lebendig machend den Menschen, der dem Tod verfallen war. Denn das erste Gefäß seiner Besitznahme ist Adam gewesen, den er auch unter seiner Gewalt hielt, da er ihn nämlich unrechtmäßig zur Übertretung verleitete und unter dem Vorwande der Unsterblichkeit die Sterblichkeit in ihn brachte. Denn durch das Versprechen, sie würden sein wie Götter (was ihm durchaus nicht möglich ist), bewirkte er den Tod in ihnen: darum ward auch mit Recht von Gott wieder gefangen genommen der Gefangennehmer des Menschen, befreit aber ward von den Banden der Verdammnis der gefangen gewesene Mensch.« (III, 23; vergl. V, 21). Ebenso lehrt der hl. Gregor von Nyssa, Gott Selbst habe den Menschen aus der Gewalt des Teufels losgekauft, da der Mensch nicht fähig war, mit seinen Kräften sich aus dieser schändlichen und verderblichen Knechtschaft zu befreien. Hierfür mußte Gott dem Teufel den Preis für den gefangenen Menschen zahlen, den er wünschte. Anstelle des Menschen hat sich der Sohn Gottes dem Teufel angeboten. Um den Teufel zur Annahme zu bewegen, hat die Gottheit Fleisch angenommen, damit der Teufel sich nicht vor der Gottheit fürchte. Der Teufel willigte ein, war aber betrogen, denn, mit dem Fleisch hatte er die Gottheit ergriffen. In dem Umstände, daß der Teufel <50> sozusagen »betrogen« wurde, findet der hl. Gregor nichts Anstößiges; der Teufel habe ja nur die Vergeltung erhalten, die er verdient habe. Bemerkenswert ist noch folgende Stelle aus der Schrift »Genaue Darlegung  des orthodoxen Glaubens« des hl. Johannes von Damaskus:  »Der Schöpfer und Herr selbst übernimmt für die Gebilde den Kampf und wird durch die Tat Lehrer; und weil der Feind durch die Hoffnung auf Gottheit den Menschen köderte, wird er durch die Hülle des Fleisches geködert. Und es offenbart sich zugleich die Güte, die Gerechtigkeit, die Weisheit und die Macht Gottes: die Güte, weil er die Schwachheit seines Gebildes nicht verachtete, sondern mit dem Gefallenen Erbannen hatte und ihm die Hand reichte;  die Gerechtigkeit, weil  er, nachdem der Mensch besiegt war, nicht einen Anderen den Tyrannen besiegen läßt, noch mit Gewalt den Menschen dem Tode entreißt, sondern Er, der Gute und Gerechte, denjenigen, den vordem  durch  die  Sünde  der Tod  unterjocht hatte,  selbst wieder zum Sieger machte und durch den Gleichen den Gleichen rettete, was unmöglich schien; die Weisheit, weil er die angemessenste  Lösung  des   scheinbar   Unmöglichen  erfand, denn nach dem Wohlgefallen Gottes des Vaters kommt der Eingeborenen Sohn, das Wort Gottes und Gott,... die Himmel neigend, herab... wird dem Vater gehorsam, indem Er durch die Annahme dessen, was uns gemäß und aus uns ist, unseren Ungehorsam heilt und uns ein Muster des Gehorsams wird...« (III, 2). Es ist wahr, an einer anderen Stelle spricht der hl. Johannes von Damaskus: »Christus stirbt, den Tod für uns auf sich nehmend, und bringt sich selbst dem Vater als Opfer für uns dar. Denn Ihm haben wir gesündigt, und Er mußte den Lösepreis für uns übernehmen und wir so von der Verdammnis erlöst werden. Denn fern sei es, daß das Blut des Herrn dem Tyrannen dargebracht wurde.« Aber in  den   unmittelbar  nachfolgenden Worten wiederholt der patristische Theologe noch einmal ausdrücklich: »Es kommt also der Tod heran, und, den Köder des Leibes verschluckend, <51> wird er von dem Haken der Gottheit durchbohrt, und nachdem er den sündlosen und lebendigmachenden Leib gekostet, geht er zu Grunde und gibt alle wieder von sich, die er zuvor verschlungen hat.« (III, 27). Allerdings ist diese patristische Lehre nur unter der Bedingung verständlich and annehmbar, wenn der Teufel tatsächlich existiert. Dies ist aber für das orthodoxe Glaubensbewußtsein keine Frage, sondern feste Überzeugung.

Zum Verständnis dieser und der noch folgenden patristischen soteriologischen Anschauungen muß man in Betracht ziehen, daß nach dem kirchlichen Glauben der menschgewordene Logos sich den Zustand, die Verworfenheit und die Strafe des gefallenen Menschen, ausgenommen die Sünde, angeeignet hat. Der hl. Johannes von Damaskus schreibt hierüber folgendes: »Man muß aber wissen, daß es zwei Aneignungen gibt: eine natürliche und wesenhafte, und eine vertretungs- und teilnahmsweise. Natürlich nun und wesenhaft ist die, nach welcher aus Menschenliebe der Herr unsere Natur und alles Natürliche annahm, indem er von Natur und in Wahrheit Mensch wurde und das Natürliche an sich erfuhr; vertretungs- und teilnahmsweise aber ist sie, wenn jemand aus Teilnahme, Mitleid nämlich oder Liebe, die Person eines Anderen vertritt und statt seiner für ihn die Reden vorbringt, die ihm selber nicht zukommen, nach welcher er unseren Fluch und unsere Verlassenheit und desgleichen, was nicht natürlich ist, sich aneignete, nicht indem Er Selbst dies war oder wurde, sondern indem Er unsere Rolle annahm und mit uns sich zusammenstellte. Das aber bedeutet auch das: »da er für uns zum Fluche geworden ist.« (Genaue Darlegung des orthodoxen Glaubens, III, 25).

Weiterhin ist der Gottmensch Jesus Christus der Heiland, weil er die Natur des gefallenen Menschen wiederhergestellt, erneuert und in den ursprünglichen Zustand zurückgeführt hat. Von dieser Erneuerung ist ständig in den liturgischen Gebeten die Rede. »In dir (d. h. der allerheiligsten Jungfrau) <52> hat das Wort Gottes Wohnung genommen, o Reine, indem es wünschte, unser Bild zu erneuern.« (Sonntag, Abendgottesdienst, 5. Ton). »Der Erstgeborene der Schöpfung... hat die verweste Natur unseres Geschlechtes in Sich Selbst erneuert.« (Sonntag, Morgengottesdienst, 3. Ton). Diese Erneuerung besteht in der Wiederherstellung des Bildes und Ebenbildes Gottes im Menschen in der Inkarnation des göttlichen Wortes. In der Menschwerdung hat Christus uns das Heil verliehen, »damit wir, was wir verloren hatten in Adam, nämlich die Ebenbildlichkeit und Ähnlichkeit Gottes, das in Christo  Jesu   wieder  erlangten.«   (Hl.   Irenäus,   Gegen  die Häresien, III, 18; vergl. V, 15). Ebenso schreibt der hl. Johannes  von  Damaskus:  »Es  wurde  aber  der  Sohn  Gottes Mensch, um das, wozu er den Menschen gemacht hatte, ihm wieder zu geben... Er nimmt an unserer Natur teil, um durch sich und in sich die Form des Bildnisses und Gleichnisses wiederherzustellen...« (Genaue Darlegung des orthodoxen  Glaubens,  IV,  4).   »Reich   an  Weisheit   stellte   der Schöpfer den durch die Übertretung Gefallenen, nach dem Bilde Gottes Geschaffenen, der gänzlich dem Verderben anheimgefallen war und das bessere göttliche Leben verloren hatte, wieder her.« (Weihnachten, Morgengottesdienst). Bei einigen heiligen Vätern und in mehreren liturgischen Texten wird gesagt, daß das fleischgewordene Wort die menschliche Natur von neuem erbaut hat. »Aus dem Staube des Todes hast Du, auferstanden, meine gefallene Natur wieder aufgebaut, o Christus...« (Sonntag, Morgengottesdienst, 8. Ton).

Es versteht sich von selbst, daß mit allen diesen Heilsgaben Christus den Menschen auch die Vergebung der Sünden gebracht, die Menschen mit Gott versöhnt und die Gemeinschaft mit Gott wiederhergestellt hat. Dieses Heiles ist der Mensch teilhaftig, weil Christus zum neuen Haupt der Menschheit geworden ist, die Menschheit  rekapituliert hat. Als solches wird Christus  auch   der »zweite  Adam«,  das Haupt der von Christus erlösten Menschheit genannt.  Die <53> ganze Menschheit ist ja ein einziger lebendiger Organismus, eine Einheit in der Vielheit der Personen. Deshalb verbreitet sich auch die von Christus vollbrachte Erlösung auf die ganze Menschheit.

Endlich hat der Sohn Gottes in Seiner Inkarnation die Menschen vom Tode errettet und ihnen die Unsterblichkeit zurückgegeben. »Der Sünde Sold ist der Tod.« (Röm. 6, 23). Dadurch daß Christus die Menschen von der Macht der Sünde befreit und durch Seinen freiwilligen Tod die Vergebung der Sünden erwirkt hat, hat Er den Menschen auch von der Macht des Todes befreit und ihm das ewige Leben gegeben.

Nicht nur die Seele des Menschen, sondern auch der Leib ist zur Auferstehung und Unsterblichkeit berufen, denn Christus ist ja in Seinem Leibe auferstanden und gen Himmel gestiegen und hat damit auch den Leib eines jeden mit Ihm vereinigten Menschen vom Tode und von der Verwesung erlöst, verherrlicht und unsterblich gemacht.

Selbstverständlich glaubt auch die orthodoxe Kirche, daß der Kreuzestod Christi auf Golgatha, wie ja überhaupt die Menschwerdung des Sohnes Gottes und die hiermit verbundene Erniedrigung ein Opfer der göttlichen Liebe gewesen ist. Dieser Kreuzestod war aber kein Opfer im alttestamentlichen oder juristischen Sinne. Wenn der Apostel Paulus in Bezug auf Christi Tod alttestamentliche Ausdrücke, Vergleiche und Bilder gebraucht hat, so war dies nur eine Akkommodation an das Verständnis der damaligen Juden, die der Apostel zu Christus bekehren wollte. Der Tod Christi am Kreuze war die höchste Erscheinung oder der äußerste Ausdruck Seiner Erniedrigung, Selbstverleugnung und Seines Gehorsams gegenüber dem himmlischen Vater, dem »Er gehorsam ward bis zum Tode des Kreuzes.« (Phil. 2, 8). Der himmlische Vater forderte von Christus vollständige Lossage vom Willen zur Selbstbewahrung Seines leiblichen Lebens um Gottes und der Nächsten willen. Diesen Gehorsam hat Christus <53> erfüllt, indem Er in Seinen Leiden und im Tode am Kreuze die höchste Opferliebe verwirklichte. Im Namen dieser Liebe hat sich Gott der Menschen erbarmt, ihnen die Sünden vergeben und sie wieder zum Gegenstand Seiner Liebe und Gnade gemacht, und Christus hat sie durch Seinen Tod dieser Liebe und Gnade würdig gemacht.

Das gläubige Auge des orthodoxen Christen sieht Christi Kreuz im Lichte des am Ostermorgen Auferstandenen. »In der orthodoxen Frömmigkeit ist das Schauen des Kreuzes und der Auferstehung, der Erniedrigung und der Herrlichkeit des Herrn untrennbar und organisch miteinander verbunden.« (N. v. Arseniew). Erst Christi Auferstehung ist der volle Sieg über den Tod und die Auferstehung aller Menschen mit Christo; deshalb ist das Osterwunder die Grundlage des Christentums. (1. Kor. 15, 14. 18). Dieser Osterglaube der orthodoxen Kirche ist der wahre Kern aller religiösen Erlebnisse und geistigen Visionen; er beseelt den Gläubigen und verleiht seinem ganzen Leben einen höheren Sinn.

Das Heilswerk Christi schließt in sich auch die Wiedervereinigung der Menschen mit dem Heiligen Geiste ein. Die Erlösung ist ja nicht nur ein äußerer Akt der Sündenvergebung von seiten Gottes, sondern auch die wirkliche Erneuerung und Wiedergeburt der menschlichen Natur. Das kann aber nur mit Hilfe einer göttlichen Kraft — der Gnade des Heiligen Geistes — bewirkt werden. Das ist der Pfingstgeist, den Christus Seinen Jüngern verheißen und dann auch gesandt hat. Der Heilige Geist vollzieht die Wiedergeburt, gibt das wahre geistige Leben und eignet dem Gläubigen das Heilswerk Christi an. Deshalb ist jeder von Christus erlöste Mensch ein Geistträger. Ohne den Heiligen Geist würde die menschliche Natur im früheren Zustand verbleiben, und der Mensch würde nicht der Gnadenkraft teilhaftig sein, ohne deren Hilfe er die Sünde nicht überwinden und sich nicht in das Gewand der Gerechtigkeit und Heiligkeit kleiden kann. Ohne den Heiligen Geist hätte er auch keine Hoffnung auf <55> die Unsterblichkeit, da ja nur der Heilige Geist der Spender des Lebens ist.

Zur orthodoxen Soteriologie gehört auch die Idee der Vergottung. »Gott ist Mensch geworden, damit der Mensch Gott werde.« In diesen wenigen Worten ist der Fundamentalsatz der orthodoxen Heilslehre ausgedrückt. Diese Lehre von der Vergottung findet sich nicht nur in den Werken der heiligen Väter und Kirchenlehrer, sondern auch in den liturgischen Büchern. »Vergottung« bedeutet natürlich nicht, daß der Mensch dem Wesen nach Gott wird, sondern nur der Gnade nach. Der hl. Johannes von Damaskus schreibt, daß der Mensch »durch die Hinwendung zu Gott vergöttlicht wird, vergöttlicht aber durch Anteil an der göttlichen Erleuchtung und nicht durch Verwandlung in die göttliche Wesenheit.« (Genaue Darlegung des orthodoxen Glaubens, II, 12). Vergottung des Menschen heißt, daß er von Gott in Christo als Sohn angenommen wird. »Darum ist das Wort Gottes Mensch und der Sohn Gottes Sohn des Menschen geworden, damit der Mensch, als mit dem Worte Gottes verbunden und die Sohnschaft empfangend, ein Sohn Gottes würde.« (Hl. Irenäus, Gegen die Häresien, III, 18). Der hl. Simeon, der Neue Theologe schreibt: »Wenn der Christ durch den Empfang der Gnade des Heiligen Geistes Teilhaber der göttlichen Natur in Jesus Christus unserem Herrn wird, dann verwandelt und verändert er sich durch Dessen Kraft in einen gottähnlichen Zustand.« Seiner Natur nach bleibt aber der Mensch Mensch. Mit anderen Worten, die Vergottung ist Gemeinschaft mit Gott durch die Sohnschaft und Teilnahme am Wort Gottes kraft der Gnade des Heiligen Geistes, Der im Menschen wohnt, die Wiedergeburt bewirkt und ihn der Gottheit teilhaftig macht. Mensch bleibend, wird der Mensch von Gott erfüllt und durchdrungen.

Die Grundlage dieser Vergottung ist natürlich wiederum die Inkarnation des Wortes Gottes, oder, genauer gesagt, die Vergottung des von Christus Erlösten ist die Folge der <56> Inkarnation des Göttlichen Logos. Durch die hypostatische Vereinigung der göttlichen und menschlichen Natur im Gottmenschen Jesus Christus wurde Seine menschliche Natur vergottet. Mit Seiner menschlichen Natur ist aber das fleischgewordene Wort mit der ganzen Menschheit organisch verbunden; deshalb ist auch unsere menschliche Natur vergottet worden. Da die Wirkung der vergottenden Gnade vom Grade der Vereinigung des Menschen mit Christus abhängt, ist die Vergottung für die meisten Menschen noch nicht reale Tatsache; in potentia, als reale Möglichkeit, ist sie aber für alle Menschen gegeben.

In den gottesdienstlichen Büchern der orthodoxen Kirche ist diese Lehre klar ausgedrückt. Unter anderem wird auch die patristische Formel »Gott wurde Mensch, damit der Mensch zu Gott werde« wiederholt: »Das Geheimnis von Ewigkeit her wird heute geoffenbart und der Gottessohn wird zum Menschensohn... Gott wird Mensch, auf daß Er den Adam zu Gott mache...« (Gottesdienst am Feste Maria Verkündigung). An mehreren Stellen wird die Vergottung durch die Inkarnation mit der Versuchung der ersten Paradiesmenschen von seiten der Schlange in Verbindung gebracht, z. B. »Die aus Eden hervorkriechende Schlange hat mich durch den Wunsch nach Vergöttlichung verlockt und zur Erde gerissen; doch der mitleidige und von Natur barmherzige Gott vergöttlicht mich voll Erbarmen, in deinem (d. h. der Gottesgebärerin) Schoße wohnend...« (Sonntag, Morgengottesdienst, 7. Ton). Deshalb ruft auch die Kirche am hl. Weihnachtsfest aus: »Preis und Lob dem auf der Erde Geborenen und Der der Erdgeborenen Wesen vergöttlicht hat!«

Die heiligen Kirchenväter haben auch auf die moralische Bedeutung der Inkarnation des Göttlichen Logos hingewiesen. Der Sohn Gottes erschien im Fleische, um den Menschen ein Beispiel des tugendhaften Lebens zu geben, denn ohne gottwohlgefälliges Leben ist das Heil des Menschen unmöglich. <57> »Das große Meer der Liebe Gottes zum Menschen«, schreibt der hl. Johannes von Damaskus, »offenbarte sich darin, daß das Wort Gottes Mensch wurde, da den Menschen der vom Verderben ab- und zum ewigen Leben hinführende Weg der Tugend durch die Tat gezeigt und gelehrt werden mußte.« (Genaue Darlegung des orthodoxen Glaubens, III, t).

Endlich rettet den Menschen auch die Liebe und das Mitleid des Heilandes Jesu Christi, da diese uns bewegen, den Weg der Sünde zu verlassen, Buße zu tun und ein Leben in der Tugend zu führen. Hierüber schreibt der orthodoxe Theologe, der Hieromonach Tarassij: »Dadurch, daß Christus auf der Erde als liebender Märtyrer für die Sünden erschien, hat Er kraft eines unabänderlichen psychologischen Gesetzes durch Seine grenzenlose Liebe die Herzen vieler zu Sich gezogen. Diejenigen, die von Ihm zu Sich gezogen wurden, haben sich von der Sünde gerettet, d. h. haben aufgehört, nach den sündigen Gesetzen der Welt zu leben und sind den Leidenschaften erstorben. Für das bewußte Leben ist ein Vorbild notwendig, mit anderen Worten, ist ein Objekt der Verehrung und Nachahmung notwendig. Für die Nachfolger Christi ist Christus Selbst, der demütige und erniedrigte Dulder, der durch Seine unendliche Liebe an Sich zieht, zu diesem Ideal geworden. Auf Ihn mit dem geistigen Auge schauend und in Ihm das Beispiel der beispiellosen Demut erblickend, haben die Christen aus diesem Schauen neue Lebensprinzipien, die wirklich und sichtbar von der Sünde befreien, geschöpft.« (»Perelom w drewnerusskom bogoslowii«, Warschau 1928, S. 124 f.). Besonders ausführlich hat diese Gedanken der verstorbene Metropolit Antonius (Chrapowitzky) in seinen Abhandlungen über die Erlösung entwickelt.

Das Heilswerk Christi hat auch kosmische Bedeutung. Nicht nur der Mensch, sondern auch »die ihrem Ursprung nach göttliche Welt ist zum zweiten Mal geheiligt und vergöttlicht, d. h. auf eine höhere Stufe der Göttlichkeit erhoben worden.« <58> (G. Fedotow). Dadurch, daß Christus Fleisch angenommen hatte, hat er nicht nur den Menschen, sondern überhaupt die ganze stoffliche Welt, von welcher ein Teil Christi vergotteter Leib ist, in Sich aufgenommen und erlöst. In diesem Sinne hat der hl. Maxim Confessor geschrieben: »Es erneuern sich die Wesen, und Gott wird Mensch, um den Verlorenen zu erretten. In der ganzen Natur vereinigt Er durch Sich das Gespaltene..., in Sich Selbst rekapituliert Er alles, d. h. vereinigt, was im Himmel und auf Erden ist und was in Ihm geschaffen ist.« Im Gottmenschen Jesus Christus ist die ganze Welt wieder in Gemeinschaft mit Gott, in den Schoß des Dreieinigen Gottes zurückgekehrt. »Das ewige Leben, das in die Welt gekommen ist«, schreibt deshalb N. v. Arseniew, »ist der Sauerteig der Verklärung der Welt.«

Aus diesen Ausführungen ist zu ersehen, daß das Heil, die Erlösung der Menschen durchaus ein Werk Gottes, ein Werk der Liebe des himmlischen Vaters, des fleischgewordenen Sohnes Gottes und der Gnade des Heiligen Geistes ist. Die Wiedergeburt, Erneuerung, Heiligung und Vergöttlichung des Menschen sind Gaben Gottes, Folgen des Heilswerkes Christi und Wirkungen der Gnadenkraft des Heiligen Geistes.

Das Mitwirken des Menschen an seinem Heil

Das bedeutet aber nicht, daß die durch das Heilswerk Christi erwirkte Erlösung, Sündenvergebung, Rechtfertigung und Heiligung dem Menschen nur äußerlich, mechanisch oder magisch angeeignet wird. Nein, nach orthodoxer Lehre muß auch der Mensch selbst mitwirken, muß sich das aktiv aneignen, was objektiv von Christus vollbracht worden ist, muß selbst in das neue Leben eingehen, das in Christo in der Welt erschienen ist, entsprechend dem Gebot des Apostels Paulus: »Wirket... euer Heil mit Furcht und Zittern.« (Phil. 2, 12).

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Worin besteht dieses aktive Mitwirken des Menschen an seinem Heil? Die Antwort hierauf ist das bekannte asketische Lebensideal der orthodoxen Kirche. »Seit den Tagen Johannes des Täufers bis jetzt leidet das Himmelreich Gewalt; und die Gewalt tun, die reißen es an sich«, hat Christus gesagt (Matth. 11, 12). Mit anderen Worten: Die aktive Teilnahme besteht im schweren Kampfe mit den Leidenschaften, der sündigen Natur, in der Buße, Lossage von den Mächten des Bösen, Reinigung von der Sünde, Befestigung des Willens im Guten, Erfüllung des Willens Gottes, der göttlichen Gebote, im Wachsen im tugendhaften Leben, in der Liebe zu Gott und dem Nächsten, in der Selbstverleugnung und Selbstaufopferung, im Tragen des Kreuzes Christi. Hierfür ist natürlich der Beistand der göttlichen Gnade notwendig. — Das Heil des Menschen ist ein gottmenschlicher Prozeß.

Die römisch-katholischen und evangelischen Christen streiten sich bezüglich der Antwort auf die Frage: Was rechtfertigt den Menschen? Die römisch-katholischen Theologen antworten: Der Glaube und gute Werke; die Protestanten behaupten:   allein   der   Glaube,   und  nennen   die   römischkatholische Praxis verächtlich Werkheiligkeit. Doch geht die Auseinandersetzung oft mehr um die Worte als um die Sache. Beide werden nämlich im wesentlichen mit der Auffassung der orthodoxen Kirche übereinstimmen, wenn sie mit den Worten des hl. Apostels Paulus antwortet: »der Glaube, der sich in  der Liebe  auswirkt.«  (Gal.  5,6). Tagtäglich bittet  der orthodoxe Christ im Morgengebet: »...O mein Heiland, errette mich nach Deiner Gnade; denn so Du mich nach meinen Werken selig machen wolltest, das wäre keine Gnade noch Geschenk, sondern vielmehr eine Schuldigkeit... Du hast gesagt: Wer an mich glaubt, der wird leben und wird den Tod nicht sehen ewiglich. So denn der Glaube an Dich rettet die Verzweifelnden, siehe: ich glaube, so rette mich denn, weil Du mein Gott und mein Schöpfer bist. Es werde <60> mir nun, o mein Gott, der Glaube zugerechnet für die Werke; fordere nicht die Werke von hier aus, die mich rechtfertigen sollten, sondern dieser mein Glaube soll genugtuend für alles sein, er soll mich verantworten, er soll mich zum Teilnehmer machen Deiner ewigen Herrlichkeit...« In allen Gebeten, in allen Schriften ihrer heiligen Väter und Lehrer bekennt die orthodoxe Kirche, daß der sündige Mensch der göttlichen Liebe, Erbarmung und Gnade unwürdig ist, daß er nur Verwerfung und Strafe verdient. »Ich weine und wehklage bitterlich, indem ich sehe die schreckliche Vergeltung des Wortes, von meinen Werken keine Rechtfertigung habe und wenig besitze im Verhältnis zu meiner Schuld, ich Unseliger. Deshalb flehe ich,... schenke mir Erlassung der Sünden, Christus, o Gott, und große Gnade.« (Sonntag, Abendgottesdienst, 5. Ton). Gerettet wird nur der, der ein »neues Geschöpf« in Christo ist. Ein »neues Geschöpf« ist aber nur der, der »den früheren Wandel des alten Menschen, der an den trügerischen Gelüsten zugrundegeht«, abgelegt, sich in der »geistigen Gesinnung« erneuert und den »neuen Menschen, der nach Gott in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit geschaffen ist«, angezogen hat. (Ephes. 4, 22—24). Aber auch hierfür ist Gottes Gnade notwendig. Deshalb betet die Kirche im Begräbnisritus: »Errette durch Deine Barmherzigkeit, o Erlöser, von den Übertretungen Deinen Diener, den Du jetzt hinweggenommen hast im Glauben, weil doch, o Menschenliebender, durch menschliche Werke niemand gerechtfertigt wird.« (Priester-Begräbnisritus). Nur »durch den Heiligen Geist wird jede Seele belebt und durch Reinigung erhöht, erleuchtet durch die dreifache Einheit in heiligem Geheimnis.« (Sonntag, Morgengottesdienst, 4. Ton).

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Die Heilung durch die Gnade des Heiligen Geistes

Die von Jesus Christus vollbrachte objektive Erlösung wird dem Menschen durch die Gnade des Heiligen Geistes angeeignet, sofern er natürlich dieser Aneignung würdig ist oder sich würdig macht. Es ist dies die Heiligung durch den Heiligen   Geist.   Selbstverständlich   lehrt   auch   die   orthodoxe Kirche, daß an  dieser Heiligung  alle  drei Hypostasen der Allerheiligsten Trias teilnehmen; sie wird aber vorzugsweise Gott dem Heiligen Geiste zugeschrieben, da Er die Heiligung vollendet. Diese Heiligung ist notwendig nach den Worten Christi:  »Wenn jemand nicht wiedergeboren wird aus dem Wasser und dem (Heiligen) Geist, so kann er in das Reich Gottes nicht eingehen.« (Joh. 3, 5). Die an Christus Glaubenden sind deshalb Geistesträger: »Wer an Mich glaubt, aus dessen Herzen werden, wie die Schrift sagt, Ströme lebendigen Wassers fließen. Damit meinte Er den Geist, den jene empfangen sollten, die an Ihn glauben. Denn der Heilige Geist war noch nicht da, weil Jesus noch nicht verherrlicht war.« (Joh. 7, 38—39). Deshalb hat auch Christus die Herabkunft oder Ausgießung des  Heiligen  Geistes  auf  Seine Jünger verheißen: »Ich will den Vater bitten, und Er wird euch einen  anderen Beistand geben.  Es ist  der Geist  der Wahrheit, der in Ewigkeit bei euch bleiben wird.« (Joh. 14, 16—17).   »Es   ist   gut   für   euch,   daß   Ich  hingehe.   Denn wenn   Ich   nicht   hingehe,   kommt   der   Beistand   nicht   zu euch, wenn Ich aber hingehe, werde Ich Ihn euch senden.« (Joh. 16, 7).   Am   Pfingstfest  hatte   sich  diese  Verheißung erfüllt.  Seit diesem Tage ist jeder Gläubige  ein  »Tempel des   Heiligen  Geistes.«   (1. Kor. 6, 19).   Die   Früchte  des Heiligen   Geistes   in   uns   sind:   »Liebe,   Freude,   Friede, Geduld,   Milde,   Güte,   Treue,   Sanftmut,   Enthaltsamkeit.« (Gal. 5, 22). Deshalb betet die orthodoxe Kirche am Himmelfahrtsfest: »Sende uns Deinen Allerheiligsten Geist, der <62> unsere Seelen unterweist und befestigt und erleuchtet und heiligt.« In ihren Gebeten gedenkt die Kirche ständig der Gnadengaben des Heiligen Geistes. Im eucharistischen Kanon der Basiliusliturgie betet der Priester: »Der Heilige Geist ist erschienen, der Geist der Wahrheit, die Gnadengabe der Kindschaft, das Pfand des zukünftigen Erbes, die Erstlingsspende der ewigen Güter, die lebendigmachende Kraft, die Quelle der Heiligung, von welchem gestärkt jedes vernünftige und geistige Geschöpf Dir dient und Dir die ewige Lobpreisung emporsendet...« In den Antiphonen der Morgengottesdienste an den Sonntagen ist vom Heiligen Geist gesagt: »Durch den Heiligen Geist wird die ganze Schöpfung erneuert, zurückkehrend in den ersten Zustand.« (1. Ton). »Dem Heiligen Geiste ist eigen Lebensursache und Ehre, denn alles Geschaffene bewirkt Er, indem Er Gott ist, hält es zusammen im Vater durch den Sohn«; »vom Heiligen Geist entströmt alle Weisheit; von Ihm strömt die Gnade den Aposteln zu, werden in den Kämpfen die Märtyrer gekrönt, und durch Ihn schauen die Propheten.« (2. Ton). »Dem Heiligen Geist entstrahlt alle gute Gabe, ... in Ihm lebt und bewegt sich alles«; »im Heiligen Geist wird erblickt alle Heiligkeit, Weisheit! Er ruft ins Dasein die ganze Schöpfung«; »aus Ihm kommt der ganzen Schöpfung Gnade und Leben.« (3. Ton). »Durch den Heiligen Geist wird jede Seele belebt und durch Reinigung erhöht; erleuchtet durch die dreifache Einheit im heiligen Geheimnis«; »dem Heiligen Geist entquellen die Ströme der Gnade, welche bewässern die ganze Schöpfung zur Lebenserzeugung«; »dem Heiligen Geist sind eigen Reichtum der Gotteserkenntnis, der Anschauung und der Weisheit, denn in Ihm offenbart das Wort alle väterlichen Glaubenslehren.« (4. Ton). »Dem Heiligen Geist ist eigen Begeisterung für alle, Wohlgefallen, Verstand, Friede und Segen.« (6. Ton). »Dem Heiligen Geist gehört die Quelle göttlicher Schätze, aus welchem kommt Weisheit, Verstand, Furcht«; »dem Heiligen Geist ist eigen der Abgrund <63> der Gnaden, der Reichtum der Herrlichkeit, die große Tiefe der Rechtssprüche.« (7. Ton). Schon hieraus ist zu ersehen, daß nach dem Glauben der orthodoxen Kirche der Heilige Geist der Spender alles Lebens und aller geistigen Gaben ist. Der Heilige Geist offenbart die Wahrheit, gibt wahre Gotteserkenntnis, Erleuchtung, Weisheit, Vergebung der Sünden, Heiligung, Frieden, Gottesfurcht, Frömmigkeit, Gebet, Erneuerung, Vergöttlichung. Der Heilige Geist ist es, der in und durch den Priester liturgisiert; deshalb betet dieser: »Befähige Du uns durch die Kraft Deines Heiligen Geistes zu diesem Dienste, damit wir, ungerichtet stehend vor Deiner heiligen Herrlichkeit, Dir darbringen das Opfer des Lobes, denn Du bist es, der da wirkt alles in allem.« (Liturgie des hl. Basilius des Großen). Das hochheiligste aller Mysterien vollzieht der Heilige Geist: »Sende herab Deinen Heiligen Geist auf uns und auf diese vorliegenden Gaben und mache dieses Brot zum kostbaren Leibe Deines Christus, das aber in diesem Kelch zum kostbaren Blute Deines Christus, verwandelnd durch Deinen Heiligen Geist!« (Liturgie des hl. Johannes Chrysostomus).

Endlich hat Jesus Christus durch die Herabsendung des Heiligen Geistes die Gründung Seiner Kirche auf Erden vollendet und ihr die Verwaltung und Spendung der göttlichen Mysterien übergeben, in denen die Gläubigen der Gnade Gottes teilhaftig werden. Deshalb schreibt der Apostel Paulus : »Wir alle sind durch die Taufe in einem Geist zu einem Leib geworden... Wir sind alle mit einem Geist durchtränkt.« (1. Kor. 12, 13). »Wo die Kirche ist, da ist auch der Geist Gottes«, schreibt der hl. Irenäus, »und wo der Geist Gottes ist, dort ist die Kirche und jegliche Gnade.« (Gegen die Häresien, III, 24).

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Die orthodoxe Lehre von der Kirche

Der orthodoxe Kirchenbegriff ist weit pneumatischer als der in den westlichen Bekenntnissen. Nach der nicht ganz korrekten Meinung vieler orthodoxer Theologen ist die Kirche im römischen Katholizismus vorwiegend eine organisierte Heilsanstalt, im Protestantismus nur die Versammlung der Gläubigen, sozusagen ein christliches Kollektiv. In der Orthodoxie ist die Kirche weder eine Anstalt noch ein Kollektiv. Sie ist ihrem Wesen nach Leben, genauer, gottmenschliches Leben, die Fortsetzung des Lebens Christi in den in Gemeinschaft mit Christus stehenden Gläubigen durch die Kraft des Heiligen Geistes. Zur Kirche gehören heißt, an diesem gottmenschlichen Leben teilnehmen, denn die Kirche ist ja der mystische Leib Christi. Die Kirche ist, wie N. Glubokowsky schreibt, »das Leben der mystischen Gemeinschaft mit Gott in Christo und der Gnadenerneuerung durch den Heiligen Geist«. Ähnlich bemerkt auch der russische Philosoph N. Berdjajew: »Die Kirche ist ein lebendiger Organismus, der gottmenschliche Organismus, in dem sich unaufhörlich gegenseitige Wirkungen der Gottheit und Menschheit vollziehen.«

Weiterhin ist die Kirche auf Erden der Ort, wo das Gottesreich, das Reich Christi, der »heilige Tempel im Herrn«, in und auf welchem wir auch miterbaut werden »zu einer Wohnung im Geiste« (Ephes. 2, 22), Wirklichkeit, Lebenstatsache ist. Wie sich in der Menschwerdung Christi eine Theophanie vollzogen hat, so ist auch die Kirche eine Theophanie, »eine geheimnisvolle göttliche Erscheinung.« (G. Florowsky). Die Kirche ist schon das Leben des Gottesreiches auf Erden. Deshalb besteht kein scharfer Trennungsstrich zwischen der irdischen und der himmlischen Kirche; hier wie dort ist ja ein und dasselbe Leben, hier der Anfang, dort die Fortsetzung und Vollendung.

Auf ein anderes Moment des Wesens der Kirche weisen folgende Aussagen hin: »Die Kirche ist das Gnadenleben der <65> vergöttlichten Kreatur.« (S. Bulgakow). »Die Kirche ist die neue Schöpfung, die sich in uns vollzieht.« (L. P. Karsawin).

In den liturgischen Gebeten der orthodoxen Kirche wird darauf hingewiesen, daß Christus das Heilswerk vollzogen hat, um die Kirche zu gründen. »Des anfangslosen Erzeugers Sohn, der aus der Jungfrau fleischgewordene Gott und Herr ist uns erschienen, um das Verfinsterte zu erleuchten, das Zerstreute zusammenzubringen« (d. h. in Seinem Leibe zu vereinigen). (Sonntag, Morgengottesdienst, 2. Ton). »Die Hände ausbreitend am Kreuze, hast Du alle Völker zusammengeführt und die Eine Kirche gewiesen denen, die Dich, o Gebieter, lobpreisen...« (Sonntag, Morgengottesdienst, 4. Ton). Denselben Gedanken finden wir im Kontakion des Pfingstfestes: »Als Er herabfahrend die Sprachen verwirrte, schied die Völker der Höchste; als Er des Feuers Zungen verteilte, berief Er alle zur Einheit; und einstimmig verherrlichen wir den allheiligen Geist.« Mit anderen Worten, die Wirkung des Heiligen Pfingstgeistes war die Gründung der Einheit in Christo, d. h. der Kirche.

Die Kirche ist der mystische Leib Christi. Dies ist sie infolge und kraft der Menschwerdung Christi. Nur in wesentlicher, realer Verbindung mit diesem Ereignis ist die Kirche das, was sie ihrem Wesen nach ist und was sie qualitativ von jeder irdischen Institution, Anstalt oder Korporation unterscheidet. Deshalb betont die orthodoxe Kirche so stark das Dogma der Menschwerdung des Logos, der Gottmenschheit Christi und die sich aus diesem Dogma ergebende Idee der Theosis des Menschen, ja der ganzen Welt. »Die Lehre von der Kirche... ist die direkte Fortsetzung und Enthüllung des christlichen Dogmas im Geiste und Sinne der Glaubensdefinition von Chalcedon.« (G. Florowsky). In Seiner Inkarnation hat Christus das Fundament der Kirche gelegt. In der menschlichen Natur Christi war die ganze Menschheit eingeschlossen, denn nach orthodoxer Anschauung ist die Menschheit, obwohl sie als Vielheit der Persönlichkeiten erscheint, <66> ein wesentliches Ganzes, ein Organismus. Christus hat in Seiner Menschheit diesen Organismus rekapituliert (als zweiter Adam); deshalb hat Er auch in Seiner Person die ganze Menschheit mit der Gottheit vereinigt. Im ersten Adam war die Menschheit von Gott abgefallen; Christus ist das Haupt der durch Ihn und in Ihm wieder mit Gott vereinigten Menschheit geworden. Diese neue Gottmenschheit ist eben die Kirche — der Leib Christi. Sie ist und in ihr ist die Einheit des göttlichen und menschlichen Lebens, der Ort, wo sich zwei vorher getrennte Welten wieder getroffen haben und eine Einheit in der Zweiheit bilden, wie ja Gott die Einheit in der Dreifaltigkeit ist. Im Leibe Christi ist die geschaffene Natur (die Menschheit und dann auch die ganze Welt) in das wahre Sein zurückgekehrt und aufgenommen. Die Folge ist die Vergöttlichung der menschlichen Natur. Wie in der Person Christi die menschliche Natur von der göttlichen erfüllt, durchdrungen und vergöttlicht wurde, ohne aufzuhören, wahre menschliche Natur zu sein, so ist auch die Menschheit, als Leib Christi, d. h. in der Kirche, der neuen Gottmenschheit, der göttlichen Natur teilhaftig, mit göttlidien Kräften erfüllt und durchdrungen und somit in ein höheres Sein erhoben, ohne daß die menschliche Natur vernichtet ist. Deshalb schreibt auch der Apostel Petrus, daß die Gläubigen »der göttlichen Natur teilhaftig werden« sollen (2. Petr. l, 4). Dieses Teilhaftigwerden der göttlichen Natur und des göttlichen Lebens vollzieht sich in der Kirche durch den Heiligen Geist, denn in den heiligen Mysterien (den kirchlichen Gnadenmitteln — Sakramenten) wird das göttliche Leben zu der in der menschlichen Natur wirkenden Kraft.

Die Heiligung des Menschen vollzieht sich in der freien Hingabe an Gott durch Christus, durch das freie Eingehen in das göttliche Leben und die Teilnahme am göttlichen Leben. Dadurch wird der Begriff der Kirche zu einem dynamischen, denn das sich in der Kirche verwirklichende gottmenschliche Leben ist ja auf Erden die höchste Dynamik.

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Ausgehend von dieser pneumatischen Auffassung der Kirche betonen A. S. Chomjakow, N. v. Arseniew und andere neuere orthodoxe Theologen, daß die Kirche für den orthodoxen Christen keine äußere Autorität ist. Sie kann keine äußere Autorität sein, da sie ja d a s Leben ist, an dem jeder orthodoxe Christ teilnimmt und das in ihm pulsiert. Die Kirche ist das Leben der Gläubigen im Dreieinigen Gott und das Leben des Dreieinigen Gottes in den Gläubigen, über die sich die Ströme der Gnade des Heiligen Geistes ergießen und in denen und durch die sie wirkt. Dieses innere Gnadenleben kann nicht äußere Autorität sein.

Nur Jesus Christus, der Herr und Heiland, ist das einzige Haupt der Kirche; ein anderes Haupt kann es nicht geben, da jeder Leib nur ein Haupt haben kann. »Er, Christus, ist das Haupt des Leibes, der Kirche. Er ist der Anfang, der Erstgeborene von den Toten. So hat Er in allem den Vorrang.« (Kol. l, 18). Keiner der Patriarchen der autokephalen orthodoxen Kirchen ist berechtigt, sich Haupt seiner Kirche zu nennen. Jeder ist nur der Vorsteher, Ersthierarch seiner Kirche, primus inter pares, hat nur einen Ehren Vorrang vor den anderen Hierarchen (Bischöfen).

Wie der römische Katholizismus und Protestantismus, so bekennt auch die Orthodoxie, daß die Kirche Christi die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche ist. Die Kirche ist die Eine Kirche: Christus selbst ist das Haupt der Kirche; Er kann aber nur einen Leib haben, dessen Haupt Er ist. (Kol. l, 18). »Wir sind alle durch die Taufe in einem Geiste zu einem Leibe geworden.« (l.Kor. 12, 13). Die Einheit der Kirche ist eine organische Einheit. Dies bezeugen die Worte des Apostels Paulus: »Von Ihm (Christus) aus wird der ganze Leib zusammengefügt und zusammengehalten durch jedes einzelne Gelenk, das seinen Dienst tut nach der Kraft, die jedem einzelnen Gliede zugemessen ist. So vollzieht sich das Wachstum des Leibes und er baut sich auf in Liebe.« (Eph. 4, 16). »Von Ihm (Christus) wird der ganze Leib durch <68> Gelenke und Sehnen verbunden und zusammengehalten und schreitet so in gottgewirktem Wachstum voran.« (Kol. 2,19). Das Vorbild der Einheit der Gläubigen in der Kirche ist die Einheit der drei Hypostasen in Gott. Christus hat ja gebetet: »Laß sie alle eins sein. Wie Du, Vater, in Mir bist und Ich in Dir bin, so laß sie in Uns eins sein.« (Joh. 17, 21). Im Bewußtsein ihrer Einheit in der Liebe bekennen auch die Gläubigen ihren einen Glauben. »Lasset uns einander lieben, damit wir einmütig bekennen mögen den Vater und den Sohn und den Heiligen Geist...«, ruft der Diakon während der Liturgie vor dem Credo aus. Diese Einheit ist dort, wo die Isoliertheit, Abgeschlossenheit, Undurchdringlidikeit und Unzugänglidikeit des Bewußtseins der einzelnen Personen in der vollkommenen Einmütigkeit überwunden ist, wo die Vielzahl der Gläubigen ein Herz und eine Seele ist. In diesem Sinne haben A. S. Chomjakow, Metropolit Antonius (Chrapowitzky) und andere  orthodoxe Theologen gelehrt:  die  Kirche  ist  »der engste Bund der Seelen, die sich durch ihre mystische Gemeinschaft mit Christus, Der sich den Gläubigen nicht einzeln, sondern in ihrer gemeinsamen Liebe offenbart, nach dem Maße ihrer Einheit gegenseitig ergänzen.« Diese Einheit der Kirche verwirklicht sich nicht nur dadurch, daß sich die Gläubigen versammeln, vereinigen, sondern dadurch, daß sie in den Organismus der Kirche hineinwachsen, sich demselben einverleiben und am gottmenschlichen Leben teilnehmen. Vom Standpunkt der Einheit betrachtet, ist die Kirche also der eine Leib Christi, die Vieleinheit der Gläubigen in Christo, die nicht nur äußerlich, mechanisch, sondern innerlich, durch die Kraft der gegenseitigen lebendigen Liebe und durch die Gnade des Heiligen Geistes  vereinigt sind   und   durch   denselben Heiligen  Geist wiedergeboren   und   dem  mystischen  Leibe Christi einverleibt sind.

Trotz ihrer wesentlichen Einheit läßt die orthodoxe Kirche die Existenz von autokephalen Kirchen zu; sie fordert nicht die äußere administrative Einheit aller Lokalkirchen. Für die <69> orthodoxe Kirche ist die innere Einheit — die Einheit im Geiste, in der Tradition, im Dogma, in der Liebe und im Gebet das Wichtigste. Natürlich sind die autokephalen Kirchen nur Glieder der einen ökumenischen Kirche, denn nur diese ist der mystische Leib Christi. Aber schon der hl. Polykarp hat in seinem Schreiben an die Christen in Smyrna bemerkt: Wie im eucharistischen Opfer der ganze Christus ist, so ist in jeder kirchlichen Gemeinde die ganze Fülle des Leibes Christi; wo Jesus Christus ist, dort ist die katholische Kirche. Deshalb schreibt der orthodoxe Theologe G. Florowsky: »Die Katholizität ist die Natur der Kirche. Sie ist die ökumenische Kirche nicht nur in der Gesamtheit aller ihrer Glieder, aller lokalen Kirchen, sondern überall und immer, in jeder lokalen Kirche, in der der Herr selbst gegenwärtig ist und wo ihm die himmlischen Kräfte dienen.«

Die eine Kirche Christi, deren Leben der Geist Christi und deren Atem die gegenseitige Liebe ist, die Liebe, die alle räumlichen und zeitlichen Grenzen überwindet und die nimmer aufhört, umfaßt nicht nur diejenigen Gläubigen, die gerade jetzt, in der gegebenen Gegenwart auf der Erde leben, sondern auch alle diejenigen, die schon zu dieser irdischen Kirche gehört haben und in die Ewigkeit eingegangen sind. Mit anderen Worten, die eine Kirche ist die Einheit der irdischen und himmlischen Kirche; die irdische ist nicht von der himmlischen zu trennen, denn sie ist ja derselbe mystische Leib Christi, der auch im Himmel ist. Der Tod ist nicht imstande, das Band zu zerreißen, das alle Gläubigen vereint, die Einheit zu zerstören, die den Leib Christi beherrscht. Als gottmenschlicher Organismus, dessen Haupt Christus ist, steht die Kirche über Raum und Zeit. Das Bewußtsein ihrer Einheit mit der jenseitigen Kirche drückt die irdische orthodoxe Kirche z. B. in folgendem eucharistischen Gebet der Basiliusliturgie aus: »Uns aber alle, die wir an dem einen Brot und Kelch teilnehmen, vereinige untereinander zu des Einen Heiligen Geistes Gemeinschaft und laß keinen von uns zum Gericht oder zur <70> Verdammnis teilnehmen an dem heiligen Leibe und Blute Deines Christus; sondern daß wir Barmherzigkeit und Gnade finden mit allen Heiligen, die Dir von der Urzeit an Wohlgefallen haben, den Urvätern, Vätern, Patriarchen, Propheten, Aposteln, Verkündern, Evangelisten, Märtyrern, Bekennern, Lehrern und mit jedem gerechten Geiste, der im Glauben vollendet hat.« Deshalb verehrt die orthodoxe Kirche Heilige und betet für die Verstorbenen, da sie glaubt, daß die Liebe und das Gebet die irdische und himmlische Kirche vereinigen. In diesen Gebeten drückt sich also auch das Bewußtsein der einen Kirche und das gemeinsame kirchliche Leben aus.

»Die Heiligen« sind nach der Lehre der orthodoxen Kirche keineswegs sündlose Menschen gewesen, die mehr Verdienste erworben haben, als zur Seligkeit notwendig ist. Wenn wir die Heiligen verehren, so verehren wir sie als lebendige Zeugen und Gefäße der göttlichen Gnade, die in ihnen wirkte. Sie haben schon auf Erden in Gemeinschaft mit Gott gelebt und sind der göttlichen Natur (durch die Gnade) teilhaftig geworden. (2. Petr. l, 4). Nach ihrem Hinscheiden sind sie auch weiterhin des göttlichen Lebens teilhaftig, leben im Lichte Gottes und setzen dort ihr Gebetsleben fort, beten für diejenigen, für die sie schon auf Erden gebetet haben und mit denen sie durch das Band der Liebe verbunden waren und auch bleiben. Wir rufen die Heiligen an, damit sie durch ihre Fürbitte vor Gottes Thron unsere unwürdigen Gebete unterstützen. Bezeichnend ist aber auch, daß in vielen Gebeten, z. B. am Sonntag Allerheiligen, die Kirche Gott bittet, daß Er die Gebete der Heiligen für uns gnädig annehme und Sich um dieser Gebete willen unser erbarme.

Was das Gebet für die Verstorbenen betrifft, so ist auch dieses ein Ausdruck unserer Liebe, der Liebe, die alle Gläubigen der Kirche und uns mit den Abgeschiedenen vereint. Auch die Verstorbenen sind ja Glieder und Kinder der Kirche und gehören zu diesem einen Bund des Glaubens, der Liebe und des Gebetes. Allerdings hält sich die Kirche für berechtigt, <71> nur für diejenigen Verstorbenen zu beten, die »in der Hoffnung der Auferstehung des ewigen Lebens und in der Gemeinschaft Christi« entschlafen sind.

Die Kirche ist eine heilige Kirche, denn sie ist ja der Leib des Sohnes Gottes. Christus Selbst »hat Sich für sie hingegeben, um sie durch das Wort in der Wassertaufe zu reinigen und zu heiligen.« Auf diese Weise wollte Er sich eine Kirche bereiten, »strahlend rein, ohne Flecken, ohne Runzeln oder dergleichen, sondern heilig und makellos.« (Eph. 5, 26—27). Die verschiedenen hierarchischen Ämter oder Dienste in der Kirche »sollen die Heiligen zur Ausübung des Dienstes heranbilden, zum Aufbau des Leibes Christi...« (Eph. 4, 12). Die an Christus Glaubenden sollen ja auch »an Seiner Heiligkeit teilnehmen«. (Hebr. 12, 10). Die Kirche ist die heilige Kirche, denn heilig ist ja die Gnade des Heiligen Geistes, die sie in den Mysterien spendet. Alle Gläubigen sind auch »mit dem verheißenen Heiligen Geiste besiegelt worden«. (Eph. l, 13). Die Gläubigen sind deshalb »Tempel des Heiligen Geistes«. (1. Kor. 6, 19).

Das weitere wesentliche Merkmal der Kirche ist die »Katholizität« (slawisch »sobornostj«). Den Terminus »katholisch« versteht die Orthodoxie nicht im Sinne von »universal«. Selbstverständlich lehrt auch die orthodoxe Kirche, daß die Kirche Christi für alle Völker aller Länder und Zeiten bestimmt ist. Aber die geographischen, räumlichen und zeitlichen Bestimmungen erschöpfen nicht den Begriff der Katholizität. Unter der »Katholizität« im Sinne von »sobornostj« versteht die Orthodoxie die Vieleinheit der Kirche, d. h. die aus vielen Personen bestehende organische Einheit aller dem Leibe Christi einverleibten Gläubigen. Dieser Begriff bezeichnet demnach die Ganzheit der Kirche als Leib Christi, die Fülle ihres gottmenschlichen Lebens, die Fülle der in ihr bewahrten Gnade des Heiligen Geistes und der Wahrheit, ihre organische Einheit in der Vielheit der Erscheinungen und Funktionen, die Selbstidentität der Kirche. Das Charakteristikum  <72> der »Katholizität« ist also die in Christo wiederhergestellte Einheit der Menschen, die in den Leib Christi eingehen; sie ist die metaphysische Einheit der in der Inkarnation des Logos und durch das Heilswerk Christi geretteten Menschheit. Der Leib Christi ist ja nach den Worten des Apostels Paulus »die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt«. (Eph. 1,23). Deshalb ist die Kirche überall dort, wo ihr Haupt Christus ist. Bewirkt wird diese »katholische« Einheit durch die Gnade des Heiligen Geistes und die gegenseitige, vereinende, freie Liebe der Gläubigen. Die »Katholizität« ist also kein quantitatives, sondern ein qualitatives Merkmal der Kirche. Die Universalität ist nur eine Folge der Katholizität der Kirche. Die Kirche war schon die katholische Kirche, als sie nur aus wenigen, von den Aposteln gegründeten Gemeinden bestand, und wird auch die katholische Kirche bleiben, wenn sich die Prophetie Christi von der »kleinen Herde« erfüllen wird.

Die Kirche ist auch katholisch, weil sie alle Gebiete des Lebens, jedwede Tätigkeit der Menschen umfassen und begnadigen, die ganze Welt wieder zu Gott zurückzuführen und das Heil des ganzen Kosmos vollbringen will. Die ganze Welt mit all ihrem Inhalt, Reichtum und ihren Werten soll zur Kirche, von Christus rekapituliert, gerettet und verklärt werden, damit Gott alles in allem sei. Das Endziel ist: die Vereinigung alles Himmlischen und Irdisdien unter dem einen Haupt Christus (Eph. l, 10). Diese universale Katholizität der Kirche ist gegenwärtig allerdings noch nicht reale Gegebenheit, aber doch potentielle Möglichkeit und Aufgabe.

Die Apostolizität ist ebenfalls ein wesentliches Merkmal der Kirche. Diese ist »auf dem Fundamente der Apostel und Propheten aufgebaut«. (Eph. 2,20). Sie bekennt und lehrt auch denselben Glauben, den die heiligen Apostel verkündet haben, und ist immer der Worte des Apostels eingedenk: »Selbst wenn wir oder ein Engel vom Himmel euch ein <73> anderes Evangelium verkündeten, als wir euch verkündet haben: er sei verflucht!« (Gal. l, 8).

Auch nach der orthodoxen Lehre ist die ökumenische-katholische Kirche unfehlbar, denn sie ist die »Säule und Grundfeste der Wahrheit«, hat die Verheißung des Herrn, daß der Heilige Geist sie »in alle Wahrheit einführt« und »die Pforten der Hölle sie nicht überwinden« werden. Deshalb ist die Kirche die Schatzkammer, Hüterin und Lehrerin der göttlichen Wahrheit und ihrer Natur nach unfehlbar. Der Heilige Geist bewahrt sie vor Lüge und Irrtum.

»Säule und Grundfeste der Wahrheit« ist das katholische (im Sinne von »sobornostj«) Glaubensbewußtsein der Kirche. Im »Sendschreiben der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche an alle orthodoxen Christen« vom 6. Mai 1848 ist gesagt »...bei uns konnten weder die Patriarchen noch die Konzilien jemals irgendetwas Neues einführen, da bei uns der Hüter der Frömmigkeit der Leib Christi selbst ist, das heißt, das Volk selbst, das immer seinen Glauben unverändert und übereinstimmend mit dem Glauben seiner Väter bewahren will.« Nach der Überzeugung der orthodoxen Kirche kann die ihrer Natur nach katholische Wahrheit niemals von einer einzelnen Person, sollte diese auch die Kathedra eines Patriarchen einnehmen, ausgedrückt werden. Auch die ganze Hierarchie an und für sich ist nicht der Träger und unfehlbare Lehrer der Wahrheit. Nur die ganze Kirche — die Hierarchie und das Volk — ist die Säule und Grundfeste der Wahrheit. Als Hüterin der Wahrheit fühlt sich die Kirche verpflichtet, den ihr übergebenen Glaubensschatz unversehrt zu bewahren. »Es gebührt sich nicht, zur heiligen Überlieferung unseres orthodoxen Glaubens, in dem wir recht getauft sind, etwas hinzuzufügen oder wegzulassen...« (Kanon am Gedenktag der hl. Väter der sechs ökumenischen Konzile).

Manche behaupten, daß die ökumenischen Konzile an und für sich unfehlbar seien. Dies ist aber nicht der Fall, selbst <74> wenn Hunderte der gelehrtesten und maßgebendsten Hierarchen aller Lokalkirchen daran teilnehmen würden. Eine konziliarische Glaubensdefinition ist erst dann ein Ausdruck und Zeugnis der Wahrheit, wenn diese Glaubensdefinition von der ökumenischen Kirche rezipiert, d. h. anerkannt, bestätigt und angenommen ist. Ein »ökumenisches« Konzil ist nicht deshalb ein »ökumenisches«, weil an demselben bevollmächtigte Vertreter aller autokephalen Kirchen teilgenommen haben, sondern weil es Zeugnis vom Glauben der ökumenischen Kirche abgegeben hat.

Die Kirche ist die Spenderin der Gnadengaben des Heiligen Geistes. Diese Gnadengaben vermittelt sie den Gläubigen in den heiligen Mysterien und sonstigen heiligen Handlungen. Diese heiligen Handlungen sind die äußeren Mittel, durch die die Kirche die Gläubigen des Heiligen Geistes teilhaftig macht und heiligt.

Die Theologie unterscheidet zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche. Die Kirche ist unsichtbar, weil sie die Fortsetzung des seinem Wesen nach unsichtbaren gottmenschlichen Lebens in den Gläubigen ist. Unsichtbar ist die Kirche auch als mystischer Leib Christi. Unsichtbar ist die Gnade des Heiligen Geistes. Unsichtbar sind die schon im Jenseits lebenden verstorbenen Glieder der Kirche. Andererseits ist die Kirche auch sichtbar, nämlich als irdische Organisation, die mit äußeren Formen und Ordnungen des Lebens der Menschen auf der Erde ausgestattet ist. Sichtbar sind auch die äußeren Zeichen der heiligen Mysterien und anderen heiligen Handlungen, die heiligen Ikonen usw. Endlich gehört auch zur sichtbaren Seite der Kirche ihre hierarchische und kanonische Ordnung. Aber auch in diesen sichtbaren Seiten und Einrichtungen der Kirche äußert sich das wesentlich Unsichtbare — die Gnadenkraft des Heiligen Geistes und das von dieser bewirkte kirchliche Gnadenleben im mystischen Leibe Christi. Die pneumatische Auffassung der Kirche schließt eben die äußere Kirchlichkeit nicht aus. Da die Kirche in dieser Welt <75> ist und wirkt, muß sie auch äußere Gestalt annehmen. Sie muß gewisse, natürlich ihrem innersten Wesen entsprechende, äußere Formen, Ordnungen und Einrichtungen haben, die das normale Leben des Organismus der Kirche in dieser Welt ermöglichen und garantieren. Hierher gehören die hierarchische Ordnung, die kirchlichen Kanones, besonders der Kultus.

Die orthodoxe Kirche hat ihr eigenes Kirchenrecht, das auf den Kanones der orthodoxen Kirche basiert. Widerspricht etwas derartig Äußerliches und Juristisches nicht dem orthodoxen pneumatischen Kirchenbegriff? — Nein! Die kanonische Ordnung der Kirche ist der äußere Ausdruck der dogmatischen Lehre von der Kirche und des Wesens der Kirche in ihrem geschichtlichen Sein. Das Dogma, insbesondere das Dogma von der Kirche, ist ja keine abstrakte Lehre,   sondern   eine Lehre, die ihre Verwirklichung oder Verkörperung im Leben und in der Geschichte fordert. Das ideale Ziel eines jeden Kanons ist: das im Dogma enthaltene Wesen der Kirche unter den gegebenen historischen Bedingungen und Umständen in möglichst vollkommener Weise auszudrücken oder zu verwirklichen. Es ist dies eine Beschränkung, vielleicht sogar eine Erniedrigung des göttlichen Wesens der Kirche; sie ist aber notwendig, da es der Kirche anders nicht möglich wäre, ihre Mission in dieser Welt zu erfüllen. Auch der Sohn Gottes hat sich erniedrigen, beschränken müssen, um Sein Heilswerk in dieser Welt zu vollbringen. Da die Kanones das Wesen der Kirche oder ein Moment des Wesens der Kirche unter den gegebenen  historischen  Bedingungen  ausdrücken,  diese  Bedingungen aber oft verschieden sind oder sich ändern, müssen Variationen oder Änderungen zugelassen werden, sogar notwendig  sein, nur  dürfen  sie  nicht  das Wesen der Kirche entstellen. Veränderte historische Umstände beeinflussen die Kanones und veranlassen die Kirche, ihrem Wesen neuen kanonischen Ausdruck zu geben. »Die kirchlichen Bestimmungen«, schreibt ein orthodoxer Theologe,   »sind   kanonische Interpretationen des Dogmas von der Kirche zu einem bestimmten <76> Zeitpunkt ihres historischen Seins.« Die kirchlichen Kanones und das Kirchenrecht stehen also nicht notwendig im Widerspruch mit dem Wesen der Kirche. Wie das Wesen der Kirche nicht Statik, sondern Dynamik, nämlich Dynamik des gottmenschlichen Lebens ist, so ist auch das kanonische Recht nicht statischen, sondern dynamischen Charakters, da es ja nur das Wesen der Kirche, des kirchlichen Lebens ausdrückt. Das höchste Kriterium des kanonischen Rechts ist nur das Bewußtsein der Kirche. Die Kanones sind nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck: sie dienen der bestmöglichen Realisierung des gottmenschlichen Lebens, des pneumatischen Wesens der Kirche in der Geschichte.

In der neueren russischen orthodoxen Theologie wird besonders noch auf den kosmischen Charakter der Kirche hingewiesen. Die Kirche ist ihrer Idee nach eine kosmische Realität, umschließt die ganze Schöpfung, da die ganze Natur im Menschen einbeschlossen ist. Der Mensch ist der Mikrokosmos; in ihm vereinigen sich alle Seinsstufen der geschaffenen Welt, der geistigen, seelischen, organischen und anorganischen Natur. Im Menschen hatte die ganze Natur ihr Haupt, durch das sie mit Gott und dem göttlichen Leben in Verbindung stand. Deshalb wurde auch die ganze Welt in die verheerenden Folgen des Sündenfalles der ersten Menschen hineingezogen. Der Apostel Paulus schreibt in seinem Briefe an die Römer die bekannten Worte: »Die Schöpfung wurde der Vergänglichkeit unterworfen, nicht nach eigenem Willen, sondern durch den, der sie unterwarf... Durch die ganze Schöpfung zieht sich ein Seufzen; sie liegt in Wehen bis zur Stunde.« »Doch bleibt der Schöpfung die Hoffnung, daß sie von der Knechtschaft der Vergänglichkeit frei und an der herrlichen Freiheit der Gotteskinder teilnehmen wird.« Deshalb ist »das Harren der Schöpfung ein Harren auf die Offenbarung der Kinder Gottes«. (Röm. 8, 20, 22, 21, 19). Durch den Menschen sollen die Ströme der göttlichen Gnade der ganzen Natur zugeführt werden. Der Mensch soll auch <77> die Natur wieder zum göttlichen Leben, zur Teilnahme am Leibe Christi zurückführen, d. h. verkirchlichen.

Auch hier ist die Grundlage dieser kosmischen Ekklesiologie die Inkarnation des Logos. In seiner Menschwerdung, durch die Annahme der menschlichen Natur hat sich der Logos mit dem ganzen Kosmos verbunden. Im Gottmenschen ist auch der Kosmos geheiligt und zur Vergöttlichung berufen. Deshalb hat die Kirche kosmische Bedeutung. Die ganze Welt wird zur Kirche und die Geschichte der Welt zur Geschichte der Kirche und des Reiches Gottes. Das Ziel dieser kosmischen Heilsgeschichte ist die Durchdringung und Erfüllung der ganzen Welt mit göttlichen Kräften. Diese Vergöttlichung der Welt ist in ihrer Endwirkung deren charismatische Erneuerung und Verklärung.

Die Heiligen Mysterien der Orthodoxen Kirche

Die Lehre der späteren orthodoxen Theologie von den heiligen Mysterien hat sich unter dem Einfluß der römisch-katholischen scholastischen Sakramentslehre gebildet. Lateinisch-scholastisch sind die Definitionen des Wesens der heiligen Mysterien bei vielen orthodoxen Theologen, z. B. Metropolit Makarius und Propst N. P. Malinowsky; der römisch-katholisdien Theologie ist auch die Siebenzahl der heiligen Mysterien entlehnt.

In der »Orthodoxen Confession« (Teil I, Antw. 99) lesen wir: »Das Mysterium (Sakrament) ist eine heilige Handlung, in der unter dem sichtbaren Zeichen der Seele des Gläubigen die unsichtbare Gnade Gottes mitgeteilt wird; es ist von unserem Herrn, durch Den jeder Gläubige die göttliche Gnade erhält, eingesetzt.« Die ältere orthodoxe Theologie schwankte in der Bestimmung der Zahl der heiligen Mysterien; Dionysius spricht z. B. von sechs, der hl. Johannes von Damaskus nur von zwei Sakramenten; einige der älteren orthodoxen <78> Theologen betrachteten auch die Mönchsweihe, die Große Wasserweihe und das Totenoffizium als Mysterien. Die neuere Theologie zählt, wie auch die römisch-katholische, sieben Sakramente, nämlich die Mysterien der Taufe, Myronsalbung, Buße, Eucharistie, Ehe, Priesterweihe und Krankenölung. Der bekannte orthodoxe Laientheologe A. S. Chomjakow schreibt: »Im Glauben an die Kirche bekennen wir mit ihr sieben Sakramente, d. h. die Taufe, die Eucharistie, die Priesterweihe, die Salbung, die Ehe, die Beichte, die Ölung. Es gibt noch viele andere Sakramente, denn jedes im Glauben, in der Liebe und in der Hoffnung vollbrachte Werk wird dem Menschen vom Geiste Gottes eingeflößt und ruft die unsichtbare göttliche Gnade herbei.« (»Die Einheit der Kirche«).

Die heiligen Mysterien sind zunächst Gnadenmittel, d. h. sie spenden den Gläubigen die göttliche Gnade. Hierbei muß aber in Betracht gezogen werden, daß die Gnade nach orthodoxer Lehre als eine göttliche Energie, als eine Theophanie, Manifestation Gottes betrachtet wird. Die Mysterien sind also Wirkungen des Heiligen Geistes und vermitteln Christi Erlösungswerk und Heilsgnade. In den Mysterien vereinen sich die Gläubigen mit Gott; in ihnen offenbart sich die höhere göttliche Welt. Durch die Kraft des Heiligen Geistes wandeln sie den Menschen um und schaffen ein neues Sein und ein neues Leben in Christo. Dieses neue Sein ist die Vergöttlichung durch die Gnade, das neue Leben — der Anfang, die Antizipation des ewigen Lebens.

Die Hierarchie

Seit den ersten Tagen der Geschichte der Kirche Christi ist die Hierarchie nicht nur ein wesentliches Element der kanonischen Ordnung der Kirche, sondern auch ein Mysterium, sogar das Mysterium per excellentiam, das unmittelbar von Jesus Christus eingesetzt worden ist, damit es auch in der Kirche bis zum Ende der Zeiten bewahrt werde. Christus <79> erwählte die heiligen Apostel. (Luk. 6, 13). Ihnen übertrug Er das Amt der Predigt des Wortes Gottes, verlieh ihnen das Recht der Sündenvergebung, des Vollzuges der heiligen Eucharistie und der anderen Mysterien. (Matth. 18, 18; Joh. 20, 21—23; Matth. 28, 19—20 u. a.). Auch die Apostel haben oftmals darauf hingewiesen, daß die hierarchischen Dienste von Jesus Christus Selbst festgesetzt sind. Christus »bestimmte die einen zu Aposteln, andere zu Propheten, wieder andere zu Glaubensboten oder zu Hirten und Lehrern.« (Eph. 4, 11). »Die einen hat Gott in der Kirche zunächst zu Aposteln bestimmt, andere zu Propheten, wieder andere zu Lehrern...« (1. Kor. 12, 28). Sich selbst haben die Apostel »als Diener Christi und als Verwalter der Mysterien Gottes« betrachtet. (1. Kor. 4, 1). In den von ihnen gegründeten Gemeinden und Kirchen haben sie Nachfolger ihres Dienstes — Bischöfe, Priester und Diakonen — geweiht. (Apg. 14, 23). Diesen gaben sie auch die nötigen Belehrungen bezüglich ihres Amtes und Dienstes, z. B. der Apostel Paulus den in Milet versammelten Presbytern. (Apg. 20, 28).

Die Bestimmung der Hierarchie hat der Apostel Paulus in seiner Epistel an die Epheser klar angegeben, denn er schreibt hier, daß nach dem Willen des Herrn die verschiedenen Ämter »sollen die Heiligen zur Ausübung ihres Dienstes heranbilden, zum Aufbau des Leibes Christi, bis wir alle zur Einheit im Glauben und in der Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen, zur Mannesreife, zum Vollmaß des Alters Christi.« (Eph. 4, 13). Dieses Ziel soll durch die Predigt des Evangeliums Christi, durch die Verwaltung, Spendung der heiligen Gnadenmittel, durch die Seelsorge und die Leitung der heiligen Kirche erreicht werden.

Die orthodoxe Lehre vom Wesen und der Bestimmung der Hierarchie ist kurz und klar in folgendem Gebet der Bischofsweihe ausgedrückt: »Herr, unser Gott, der Du, weil die menschliche Natur das Wesen der Gottheit nicht zu

79ertragen vermag, durch Deine Anordnung uns gleichen Schwächen unterworfene Lehrer eingesetzt hast, die an Deinem Throne weilen, um Dir Opfer und Gaben für all Dein Volk darzubringen, Du, Christus, laß auch diesen, der als Verwalter der bischöflichen Gnade erwiesen ist, zu Deinem, des wahren Hirten, Nachahmer werden, der Du Dein Leben ließest für Deine Schafe. Mache ihn zum Führer der Blinden, zum Lichte derer, so in der Finsternis sind, zum Erzieher der Unverständigen, zum Lehrer der Kinder, zur Leuchte in der Welt, auf daß er, nachdem er die ihm anvertrauten Seelen in dem gegenwärtigen Leben vollkommen gemacht hat, ohne Beschämung vor Deinem Throne dastehen möge und den großen Lohn empfange, welchen Du bereitet hast denen, die für die Verkündigung Deines Evangeliums gelitten haben...«

Wie in der alten Kirche, so wird auch in der orthodoxen Kirche die Hierarchie in drei Stufen eingeteilt: die Bischöfe, die Priester und die Diakonen. Die heiligen Apostel sind von Christus Selbst berufen worden und haben von Ihm die Gnade des Heiligen Geistes erhalten. Die heiligen Apostel haben dann ihrerseits Bischöfe, Presbyter (Priester) und Diakonen bestellt und durch Handauflegung geweiht. Deshalb anerkennt die orthodoxe Kirche als rechtmäßig und begnadet nur diejenigen Mitglieder der Hierarchie, die ihre apostolische Sukzession nachweisen können.

Das Mysterium der heiligen Taufe

»Wahrlich, wahrlich, Ich sage dir: Wenn jemand nicht wiedergeboren wird aus dem Wasser und dem Geiste, so kann er in das Reich Gottes nicht eingehen,« (Joh. 3, 5), hat Jesus im Gespräch mit Nikodemus gesagt. Deshalb betrachtet die orthodoxe Kirche die heilige Taufe als das grundlegende Mysterium. Sie ist gleichsam die Tür in die heilige Kirche und ins Gottesreich. Der Empfang der heiligen Taufe ist für <81> alle, die um diese Verpflichtung wissen, die Bedingung des Heils. Weil dieses Mysterium von so wesentlicher Bedeutung ist, hat sich auch der Herr und Heiland von Johannes dem ' Täufer im Jordan taufen lassen. Christus Selbst bedurfte der Taufe nicht; wenn Er Sich trotzdem taufen ließ, so geschah dies um unseretwillen, für uns. »Der Du hinwegnimmst die Menge der Sünden von allen«, singt die Kirche am Epiphaniasfest, »barmherziger Christus, aus beispielloser Gnade kommst Du, um als Mensch Dich taufen zu lassen im Wasser des Jordans, mich bekleidend mit dem Kleide, der ich gänzlich entblößt war von der ursprünglichen Herrlichkeit.«

In den liturgischen Gebeten der orthodoxen Kirche werden ausführlich die Gnadengaben der heiligen Taufe angegeben. Im Gebet für die Katechumenen während der Göttlichen Liturgie betet der Priester, daß die heilige Taufe den Katechumenen zum Bad der Wiedergeburt werde und Gott sie der Vergebung der Sünden und des Kleides der Unverweslichkeit würdige, sie mit der heiligen Kirche einige und zu Seiner auserwählten Herde zähle. Im Gebet für die Katechumenen in der Liturgie der Heiligen Vorgeweihten Gaben betet der Priester noch, daß Gott die Katechumen in der heiligen Taufe von der alten Verführung und von der Arglist des Widersachers erlöse und sie zum ewigen Leben berufe, erleuchtend ihre Seelen und Leiber und zuzählend der vernünftigen Herde, über welcher Gottes heiliger Name angerufen ward. So betet der Priester im Taufritus: »... Gebieter des Alls, erweise dieses Wasser als Wasser der Erlösung, als Wasser der Heiligung, als Reinigung des Fleisches und Geistes, als Lösung der Fesseln, als Nachlassung der Übertretungen, als Erleuchtung der Seelen, als Bad der Wiedergeburt, als Erneuerung des Geistes, als Gnadengeschenk der Kindschaft, als Gewand der Unverweslichkeit, als Quelle des Lebens... Erscheine, Herr, über diesem Wasser und gib, daß der, welcher darin getauft wird, umgeschaffen werde zur Ablegung des alten Menschen, der durch die Lüste der Verführung verderbt ist, und zur <82> Anziehung des neuen, der nach dem Bilde seines Schöpfers erneuert ist, auf daß er, mit eingepflanzt zur Ähnlichkeit Deines Todes durch die Taufe, auch Deiner Auferstehung teilhaftig werden möge und, die Gabe des Heiligen Geistes bewahrend und das  Unterpfand  der  Gnade  mehrend,  den  Ehrenpreis der himmlischen Berufung erhalten möge und den Erstgeborenen zugezählt werde, die eingeschrieben sind im Himmel, in Dir, unserem Gott und Herrn Jesus Christus.« Die Gnadengaben der heiligen Taufe sind also: Reinigung des Fleisches und Geistes, Vergebung aller Sünden, einschließlich der sogenannten Erbsünde, Befreiung von der Macht der satanischen Kräfte, Erleuchtung der Seele und Erneuerung des Geistes, Teilnahme am Tode und an der Auferstehung Christi, Ablegung des alten Menschen, Wiedergeburt durch die Gnade, Anziehen des neuen Menschen, Eingehen in die Kirche Christi, Verleihung der Gotteskindschaft, Zurechnung zur himmlischen Kirche und Gemeinschaft mit ihr und Verheißung des Erbes des  ewigen Lebens.  In der heiligen Taufe  wird  der Getaufte zum Glied des mystischen  Leibes  Christi;  er ist in Christus, aber »wer in Christus ist, ist ein neues Geschöpf.« (2. Kor. 5, 17). Die Taufe schafft ein neues Sein!

Die heilige Myronsalbung

Der heiligen Taufe folgt in der orthodoxen Kirche »die göttliche Heiligung in der lebendigmachenden Salbung«. Der Priester salbt mit dem vom Bischof geweihten heiligen Myronöl die Stirn, die Augen, die Nasenflügel, den Mund, die Ohren, die Brust, die Hände und die Füße, indem er hierbei die Worte spricht: »Siegel der Gabe des Heiligen Geistes. Amen.«

Was die Gnadengaben dieses heiligen Mysteriums betrifft, so ist im Gebet vor der Salbung folgendes gesagt: »...Du Selbst, Gebieter, barmherziger Allherrscher, gewähre ihm (d. h. dem Getauften) auch die Besiegelung der Gabe Deines <83> heiligen und allmächtigen und anbetungswürdigen Geistes... Bewahre ihn in Deiner Heiligung; befestige ihn im orthodoxen Glauben; erlöse ihn von dem Bösen und all seinen Nachstellungen und durch die heilbringende Furcht vor Dir erhalte in Unschuld und Gerechtigkeit seine Seele; auf daß er, in jedem Werke und Worte Dir wohlgefallend, Sohn und Erbe werde Deines himmlischen Reiches.« Noch ausführlicher wird über die Gnadengaben dieses Mysteriums im Gebet der Weihe des heiligen Myronöls gesprochen. Hier betet der Bischof: »...Sende herab Deinen Allheiligen Geist auf dieses Myron; mache es zu einer königlichen Salbung, zu einer geistlichen Salbung, zum Schutzmittel für das Leben, zur Heiligung der Seelen und Leiber, zum öle der Freude... Ja, Gebieter, Gott, Allherrscher, erweise dasselbe durch das Herabkommen Deines Heiligen und anbetungswürdigen Geistes als Kleid der Unsterblichkeit, als Siegel der Vollendung, aufdrückend den Dein heiliges Bad Empfangenden Deinen göttlichen Namen und den Deines einziggezeugten Sohnes und des Heiligen Geistes, auf daß sie von Dir als Deine Angehörigen und Freunde, als Bürger Deiner Stadt, als Deine Knechte und Mägde angesehen werden, damit sie, geheiligt an Leib und Seele, abgewandt von allem Bösen, und befreit von aller Ungerechtigkeit und bekleidet mit dem Gewände Deiner Herrlichkeit, von den heiligen Engeln und Erzengeln und von allen himmlischen Kräften erkannt, und von allen bösen und unreinen Geistern gefürchtet werden, und ein auserwähltes Volk, ein königliches Priestertum, ein heiliges Geschlecht seien, und versiegelt mit diesem unbefleckten Myron, Deinen Christus in ihren Herzen tragen mögen, als Deine Wohnstätte, des Gottes und Vaters in dem Heiligen Geiste in die Ewigkeiten...«

Die heilige Myronsalbung spendet uns also die Gnade des Heiligen Geistes zur Befestigung und Stärkung des Geistes, der Seele und des Leibes, zum erfolgreichen Kampf mit allen Feinden des Heils, zum Wachstum im christlichen Leben, »bis <84> wir alle zur Einheit im Glauben und in der Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen, zur Mannesreife, zum Vollmaß des Alters Christi«, (Eph. 4, 13), zum Wachstum im Glauben, der Liebe und der Gotteserkenntnis (2. Petr. 3, 18; Phil. l, 9; Kol. l, 10; 2. Thess. l, 3), damit wir »hineinwachsen in Ihn, der das Haupt ist: Christus«, (Eph. 4, 15), damit Er in uns Gestalt gewinne (Gal. 4, 9) und wir zu Erben des ewigen Lebens werden.

Die orthodoxe Kirche glaubt, daß dieses heilige Mysterium von Christus eingesetzt ist, denn auf Christus Selbst ist nach der Taufe der Heilige Geist herabgekommen, auch hat Er vom Heiligen Geist gesprochen, Den alle die empfangen, die an Seinen Namen glauben. (Joh. 7, 37—39). Endlich haben die heiligen Apostel allen Getauften die Gabe des Heiligen Geistes gespendet. (Apg. 8, 14—17). Dies geschah zunächst durch die Handauflegung auf die Getauften, später aber durch Salbung, worauf z. B. die Worte hinweisen: »Ihr habt die Salbung von dem Heiligen... Was euch betrifft, so bleibt in euch die Salbung, die ihr von  Ihm  empfangen habt.« (1. Joh. 2, 20, 27). »Gott ist es, Der uns mit euch auf Christus gegründet, Der uns gesalbt, Der uns auch Sein Siegel aufgedrückt und den Geist als  Unterpfand in  unser Herz gegeben hat.« (2. Kor. l, 21—22).

Die Buße

In Seiner Abschiedsrede an Seine Jünger hat Christus gesagt: »So steht geschrieben: Der Messias muß leiden und am dritten Tage von den Toten auferstehen. In Seinem Namen soll allen Völkern, angefangen von Jerusalem, Buße und Vergebung der Sünden gepredigt werden. Ihr seid Zeugen davon.« (Luk. 24, 46—47). Außerdem hat Christus den heiligen Aposteln, und in ihnen auch allen ihren Nachfolgern im apostolischen Amt, den Heiligen Geist und die Vollmacht der Sündenvergebung verliehen. Jesus sprach zu ihnen: <85> »Friede sei mit euch! Wie Mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.« Nach diesen Worten hauchte Er sie an und sprach: »Empfanget den Heiligen Geist. Wem ihr die Sunden nachlasset, dem sind sie nachgelassen; wem ihr sie behaltet, dem sind sie behalten.« (Joh. 20, 22—23).

Nach dem Bekenntnis der orthodoxen Kirche ist die Buße und die mit ihr verbundene Beichte, d. h. das Sündenbekenntnis vor dem Beichtvater, eine »himmlische Arznei«, denn die Sündhaftigkeit ist eine Krankheit, von der der Mensch geheilt werden muß. Notwendig ist natürlich aufrichtige Reue und der feste Vorsatz der Besserung. Deshalb ermahnt der Geistliche den Beichtenden: »...bemühe dich, zu bereuen in deinem Herzen alle deine Sünden und dieselben deinem Herrn Gott, Der unsichtbar bei uns zugegen ist, vor mir Demütigem... aufrichtig zu bekennen, damit du, Lossprechung (Vergebung) empfangend, frei wirst vom Bande der Sünde, rein und geheilt wirst an der Seele durch die Gnade Gottes.« Auch nach dem Sündenbekenntnis weist der Priester in einer Ermahnung nochmals darauf hin: »Gleichwie der Gichtbrüchige durch Christi Worte: »Siehe, du bist gesund geworden, sündige hinfort nicht mehr«, geheilt worden war, so vernimmst auch du, der du von der Krankheit der Seele erlöst worden bist, durch Desselbigen Gnade und durch das Wort der Vergebung, das von mir, sündigem Menschen, dir gegeben worden ist, von meiner Niedrigkeit: »Siehe, du bist gesund geworden, sündige hinfort nicht mehr!««

Das Allerheiligste Abendmahl

Nach dem Glauben der orthodoxen Kirche empfängt der Gläubige im allerheiligsten Abendmahl den wahren Leib und das wahre Blut unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi. Der ganze Ritus der orthodoxen Göttlichen Liturgie basiert auf diesem Glauben an die wirkliche Gegenwart des wahren <86> Leibes und des wahren Blutes Christi, nicht nur im geistigen oder   symbolischen,   sondern   im   wörtlichen,   realen   Sinne. »Blicke  herab   auf   mich,   Deinen   sündigen   und   unnützen Knecht«, betet der Priester, »und reinige meine Seele... und befähige  mich,  den  durch  die  Kraft  Deines  Heiligen Geistes   Bekleideten  mit  der  Gnade   des   Priestertums,  zu stehen  vor diesem  Deinem  heiligen  Altar  und  zu  weihen Deinen heiligen  und allreinen Leib   und Dein ehrwürdiges Blut... Denn Du bist der Darbringende und der Dargebrachte, der Empfangende und Hingegebene, o Christus, unser Gott...« Am Karsamstag werden anstatt des Cherubimsgesanges   folgende   ergreifende Worte   gesungen:   »Still schweige alles Fleisch der Sterblichen, und stehe mit Furcht und  Zittern!  Nichts   Irdisches  denke  es  in  sich:  denn  der König der Könige und der Herr der Herrschenden kommt, um geschlachtet zu werden und sich hinzugeben zur Nahrung den Gläubigen.«  Nach dem Aussprechen  der Einsetzungsworte Christi betet der Priester in der Chrysostomusliturgie: »Gedenkend also dieses heilsamen Gebotes und alles für uns Geschehenen: des Kreuzes, des Grabes, der Auferstehung am dritten Tage, der Himmelfahrt, des Sitzens zur rechten Hand, der zweiten und ruhmreichen Wiederkunft: Das Deine von dem Deinen bringen wir Dir dar, nach allem und für alles. Noch bringen wir Dir diesen vernünftigen und unblutigen Dienst dar und rufen und bitten und flehen zu Dir: sende herab Deinen Heiligen Geist auf uns und auf die vorliegenden Gaben... und mache dieses Brot zum kostbaren Leibe Deines Christus! Das aber in diesem Kelch zum kostbaren Blute Deines Christus! Verwandelnd durch Deinen Heiligen Geist! Amen, Amen, Amen!«

Die Lehre, daß die allerheiligsten eucharistischen Gaben der wahre Leib und das wahre Blut unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi sind, ist altkirchlicher Glaube. Schon der hl. Irenäus wandte sich an die Häretiker mit der Frage: »Wie aber können sie das Brot, über welches die Danksagung <87> gesprochen wurde, als den Leib ihres Herrn anerkennen und den Kelch als den Seines Blutes, wenn sie Ihn nicht für den Sohn des Weltschöpfers ansehen...?« (Gegen die Häresien, IV, 18). »Es ist wahrhaftig sein Leib vereint mit der Gottheit, der Leib aus der heiligen Jungfrau«, schreibt der hl. Johannes von Damaskus, »nicht als ob der aufgefahrene Leib vom Himmel herabkäme, sondern weil das Brot und der Wein selbst verwandelt werden in Leib und Blut Gottes.« »Das Brot und der Wein sind nicht ein Bild des Leibes und Blutes Christi (das sei ferne!), sondern der vergottete Leib des Herrn selbst, da der Herr selber sprach: »Das ist mein« nicht Bild des Leibes, sondern »Leib« und nicht Bild des Blutes, sondern »Blut«... (Genaue Darlegung des orthodoxen Glaubens, IV, 13).

Das eucharistische Mysterium ist natürlich ein Wunder, aber ein für den Verstand des Gläubigen durchaus annehmbares Wunder, denn auch in der heiligen Eucharistie wirkt ja Gottes Allmacht. Dieses Wunder ist eine Wirkung des Heiligen Geistes. »Denn wie Gott alles, was Er machte, durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes machte, so wirkt auch jetzt die Wirksamkeit des Heiligen Geistes das übernatürliche, was nur der Glaube fassen kann... Jetzt fragst Du, wie das Brot Leib Christi wird und der Wein und das Wasser Blut Christi? Auch ich sage dir: der Heilige Geist kommt dazu und tut das, was über Wort und Gedanke ist.« ». . . Wenn du aber fragst nach der Weise, wie es geschieht, so genügt dir zu hören, daß es durch den Heiligen Geist geschieht,... daß das Wort Gottes wahr ist und wirksam und allmächtig, die Weise aber ist unerforschlich.« (Genaue Darlegung des orthodoxen Glaubens, IV, 13).

In der heiligen Eucharistie empfängt der Kommunikant den wahren Leib und das wahre Blut unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi; er tritt in die leibliche Gemeinschaft des Gottmenschen, des inkarnierten Sohnes Gottes. Es versteht sich von selbst, daß es gänzlich unmöglich ist, alle Früchte <88> dieser Kommunion, alle  Gnadengüter  dieses  hochheiligsten Mysteriums   aufzuzählen.  Menschliche Worte   und   Begriffe reichen nicht aus, um die Fülle dieser Gnadengaben auszudrücken. Der hl. Johannes von Damaskus schreibt: »Es gereicht den im Glauben würdig Empfangenden zur Vergebung der Sünden und zum ewigen Leben und zur Bewahrung von Seele und Leib, den im Unglauben unwürdig Genießenden aber zur Züchtigung und Strafe,  gleichwie  auch  der Tod des Herrn den Gläubigen Leben und Unvergänglichkeit wurde zum Genüsse der ewigen Seligkeit, den Ungläubigen aber und den Mördern des Herrn zur ewigen Strafe und Pein.« »Laßt uns die göttliche  Glühkohle nehmen, damit das Feuer des Verlangens in uns in Verbindung mit der Glut der Kohle unsere Sünden verbrenne und unsere Herzen erleuchte und wir durch die Teilnahme an dem göttlichen Feuer feurig und vergottet werden...«  »Lebendigmachender Geist ist das Fleisch des  Herrn,  weil es  vom lebendigmachenden  Geiste empfangen worden ist. Denn das vom Geiste Erzeugte ist Geist. Das aber sage ich, nicht um die Natur des Leibes aufzuheben, sondern um Seine lebendigmachende und göttliche Kraft zu zeigen.«  »Teilnahme aber heißt sie, denn durch sie nehmen wir an der Gottheit Jesu teil. Gemeinschaft aber heißt und ist sie in Wahrheit, weil wir durch sie mit Christo Gemeinschaft haben und Seines Fleisches und Seiner Gottheit teilhaftig werden, durch sie aber auch unter einander Gemeinschaft haben und verbunden werden; denn wir alle, die wir an einem Brote teilnehmen, werden ein Leib Christi und ein Blut und Glieder von einander, da wir Christo einverleibt sind.« (Genaue Darlegung des orthodoxen Glaubens, IV, 13). Der hl. Irenäus weist noch darauf hin, daß »auch unsere Leiber, wenn sie an der Eucharistie teilnehmen, nicht mehr dem Verderben unterworfen sind, da sie die Hoffnung der Auferstehung haben.« (Gegen die Häresien, IV, 13).

Diese patristische Theologie der heiligen Eucharistie finden wir auch in den liturgischen Gebeten der orthodoxen Kirche, <89> vornehmlich in den Göttlichen Liturgien des hl. Johannes Chrysostomus und des hl. Basilius des Großen und in den Kommuniongebeten. Die erste Frucht der hl. Kommunion ist Vergebung der Sünden: »Es seien zur Vergebung meiner Missetat Dein allerreinster Leib und Dein göttliches Blut.« Weiterhin: »Vertreibung und Abwehr der schlechten und bösen Gewohnheit« und »Ertötung der Leidenschaften«: »Ertöte Du in mir die seelentötenden fleischlichen Begierden.« Reinigung der Seele von jeder Befleckung, von unreinen, argen Gedanken, des Herzens und des Gewissens; »Bewahrung vor jeder teuflischen Einwirkung«. Heilung der Seele von allen Wunden und ebenso des Leibes. »Auch mögen sie (d. h. Christi Leib und Blut) zur Arznei werden vielfältiger Krankheiten.« Durch die Kommunion wird »unsere durch die Sünde in Verwesung übergegangene Natur erneuert« und durch die Kraft des Heiligen Geistes geheiligt: »Heilige Du, als der einzige, heilige Gebieter, meine Seele und meinen Leib, meinen Verstand und mein Herz, meine Nieren und mein Inneres, und erneuere mich ganz«; »heilige mich ganz«; »möge ich an Seele und an Leib geheiligt werden«. Dadurch wird die heilige Eucharistie auch »zu göttlicher Tugenden Wachstum und Vermehrung«. Der gläubige Empfang der heiligen eucharistischen Gaben ist ein Unterpfand des zukünftigen ewigen Lebens. Deshalb betet der orthodoxe Christ vor der hl. Kommunion u. a.: »Gib mir bis zu meinem letzten Atemzuge untadelhaft zu empfangen den Teil Deiner Heiligungen zur Gemeinschaft des Heiligen Geistes, zur Ausrüstung auf dem Weg in das ewige Leben, zur wohlangenehmen Verantwortung vor Deinem furchtbaren Richterstuhle, damit gleich allen Deinen Auserwählten auch ich ein Teilnehmer werde an Deinen unvergänglichen Gutem, welche Du denen, die Dich, o Herr, lieben, bereitet hast.« Wer den göttlichen Leib und das Blut gläubig empfangen hat, erwirbt auch die Unverweslichkeit. An dieser Unverweslichkeit nimmt der Leib des Christen teil, denn, wie schon der hl. Irenäus bemerkte, »auch unsere Leiber, <90>  wenn sie an der Eucharistie teilnehmen, sind nicht mehr dem Verderben unterworfen, da sie die Hoffnung der Auferstehung haben.« (Gegen die Häresien, IV, 13).

Die eigentlichste Gnadengabe der heiligen Eucharistie ist aber, wie schon bemerkt, die lebendige Gemeinschaft mit dem Herrn Jesus Christus und dem Heiligen Geist, die an und für sich das höchste Gut und die höchste Seligkeit ist. Deshalb betet der Kommunikant: »Verbleibe in mir, mein Heiland, und laß mich in Dir verbleiben, wie Du selbst es gesagt hast.« »Möge ich werden Dein Haus durch den Empfang der heiligen Geheimnisse, indem ich Dich wohnend habe in mir, samt dem Vater und Geiste!« »Lehre mich vollbringen die Heiligung in Deiner Furcht, auf daß ich bei gutem Zeugnisse meines Gewissens den Teil Deiner Heiligungen empfangend, Deinem heiligen Leibe und Blute geeinigt werde und Du in mir lebest und wohnest mit dem Vater und dem Heiligen Geiste.« Nach der Wandlung betet der Priester: »...Lehre uns, zu üben Heiligkeit in Deiner Furcht, damit wir... geeinigt werden dem heiligen Leibe und Blute Deines Christus... und ein Tempel werden Deines Heiligen Geistes...« Nach der Kommunion singt der Chor: »Wir haben das wahre Licht gesehen; wir haben empfangen den Heiligen Geist...« Die gemeinsame Kommunion von ein- und demselben heiligsten Leibe und Blute Christi und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes bewirken auch die kirchliche Gemeinschaft. Deshalb betet der Priester nach der Wandlung der eucharistischen Gaben: »Uns aber alle, die wir an dem einen Brote und Kelch teilnehmen, vereinige untereinander zu des Einen Heiligen Geistes Gemeinschaft.« (Basiliusliturgie).

Die Krone aller dieser Gnadengaben der heiligen Eucharistie ist die Vergöttlichung des Menschen. Hiervon ist u. a. in dem ergreifenden Kommuniongebet des hl. Simeon des Neuen Theologen die Rede, wo es heißt: »...alle meine Sünden vergib mir..., auf daß mit reinem Herzen, mit <91> zerknirschter Seele ich teilnehme an Deinen Geheimnissen,... durch die belebt und vergöttlicht wird jeglicher, welcher Dich ißt und trinkt mit reinem Herzen...« Die Vorbereitungsgebete zur heiligen Kommunion endigen mit der tiefsinnigen Ermahnung: »Das göttliche hehre Blut erblickend, schaudere, Mensch! Denn Glut ist es, welche die Unwürdigen versengt. Der Gottesleib vergöttlicht mich und nährt mich! Den Geist vergöttlicht Er, nährt wunderbar den Sinn!«

Die heilige Eucharistie hat aber außerdem noch ökumeni-sche erlösende und heiligende Kraft. Dies ist daraus zu ersehen, daß der Priester nach der Wandlung der heiligen Gaben nicht nur für die der Liturgie beiwohnenden Gläubigen und Kommunikanten betet, sondern auch der Allerheiligsten Gottesgebärerin und aller Heiligen des Alten und Neuen Bundes gedenkt, für alle Verstorbenen, für die ganze heilige katholische und apostolische Kirche, für die Hierarchie der Kirche, für alle Frommen, Wohltäter, Armen, Notleidenden, Kranken, Verbannten, Gefangenen, für die Vertreter der weltlichen Regierungen, für tiefen und unerschütterlichen Frieden, für die Säuglinge, Jugendlichen und Greise, für die Witwen und Waisen, für die Reisenden, für die Hilflosen und Verzweifelnden, für eine jede Stadt und Gegend, ja für die ganze Welt betet.

Mysterium der Ehe

»Die Ehe ist ehrenvoll und das Bett ist unbefleckt, denn beides hat Christus zuvor gesegnet, indem Er im Fleische aß und auf der Hochzeit zu Kana das Wasser in Wein verwandelte und das erste Wunder sehen ließ,« ist im Großen Bußkanon des hl. Andreas von Kreta gesagt. Die christliche Ehe ist von der Kirche gesegnet; auf sie ist der Heilige Geist herabgerufen; sie ist also ein Gnadenstand. Natürlich ist die Ehe auch ein natürlicher Zustand, der von Gott dem Schöpfer zwecks Fortsetzung des Menschengeschlechtes gestiftet <92> worden ist. »Seid fruchtbar und mehret euch und erfüllt die Erde und macht sie euch Untertan« (Gen. l, 28), sprach der Schöpfer zu dem ersten Menschenpaar. Diese Bestimmung der Ehe ist auch in der christlichen Kirche nicht aufgehoben, deshalb betet die Kirche bei der Verlobung und Trauung: »Auf daß ihnen gewährt werden mögen Kinder zur Fortpflanzung des Geschlechtes und alles zum Heil Erbetene...« Wichtiger ist aber die mystische Bedeutung der Ehe. Diese besteht darin, daß in der Ehe das Gottesgebot »die beiden werden e i n Fleisch sein« erfüllt wird. Dieses Gebot ist auch von Christus wiederholt worden:  »Habt ihr  nicht gelesen, daß der Schöpfer im Anfang den Menschen als Mann und Frau geschaffen und gesagt hat: Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und die zwei werden  e i n Fleisch  sein? Also  sind sie  nicht mehr zwei, sondern  e i n Fleisch.  Was  nun  Gott verbunden hat,  darf der  Mensch  nicht  trennen.«   (Matth. 19, 4—6).  Auf  diese Worte des Herrn wird mehrmals   im Trauungsritus  Bezug genommen, um   auf  diesen   mystischen  Charakter  der  Ehe hinzuweisen.

Das Brautpaar vereinigt die Gnade des Heiligen Geistes, um dessen Herabkunft auf das Brautpaar gebetet wird: »Gebieter, sende auch jetzt Deine Hand aus Deiner heiligen Wohnung, und verbinde Deinen Diener... und Deine Magd..., weil durdi Dich verbunden wird dem Manne das Weib. Verbinde sie in Eintracht, kröne sie zu einem Fleische...« Die andere vereinigende Kraft ist die gegenseitige aufopfernde Liebe, die von Einmütigkeit, Keuschheit und ehelicher Treue begleitet ist. Deshalb wird auch die Ehe als »unauflöslicher Bund der Liebe« bezeichnet. Bei der Trauung betet die Kirche, daß Gott dem Brautpaar »gegenseitige Liebe im Bunde des Friedens«, »Eintracht der Seelen und Leiber« gebe und »sie in Eintracht verbinde«. Dann wird den »zur Gemeinschaft der Ehe Verbundenen« eine gesegnete »gemeinschaftliche Schale« Weines zum Trinken angeboten; <93> die gemeinschaftliche Schale ist gleichsam ein Symbol dieser vereinigenden Liebesgemeinschaft.

Da die Ehe ihrem Ideale nach eine Gnadeneinheit zweier Personen ist, ist sie als solche ein Bild der Kirche, die nidit nur die Gnadeneinheit in der Vielheit der Personen, sondern auch, als Leib Christi, die Einheit der erlösten Menschheit mit Christus ist. Hierauf hat auch der Apostel Paulus in seinem Brief an die Epheser hingewiesen. Hier bemerkt er bezüglich des Ehebundes, in dem zwei zu einem Fleische werden: »Dies Geheimnis ist groß; ich sage (es) aber (mit Bezug) auf Christus und die Kirche.« (Ephes. 5, 31—32). Im Hinblick auf diese apostolischen Worte betet der Priester bei der Verlobung: »Herr, unser Gott, der Du die Kirche aus den Völkern, eine reine Jungfrau, Dir anverlobt hast, segne diese Verlobung, und einige und bewahre diese Deine Diener in Frieden und Eintracht...« In Anbetracht dieser hohen Wertung der Ehe als Gnadenbund und Gnadeneinheit von Mann und Frau glaubt die orthodoxe Kirche, daß Gott Selbst »der geheimnisvollen und reinen Ehe priesterlicher Vollzieher« (s. Trauungsritus), diese Einheit in der Ehe also die Wirkung der göttlichen Gnade ist.

Diese erhabene orthodoxe Lehre erklärt auch, warum die orthodoxe Kirche die Ehe als unauflöslich betrachtet und, streng genommen, nach dem kanonischen Recht nur einen Scheidungsgrund anerkennt, nämlich den Ehebruch, da dieser den Tod des lebendigen Ehebundes bedeutet (vergl. Matth. 19,9: »Ich sage euch, daß, wer seine Frau entläßt, außer wegen Ehebruchs, und eine andere heiratet, der bricht die Ehe«). Aus demselben Grunde verhält sich die orthodoxe Kirche einer zweiten Ehe gegenüber sehr zurückhaltend. Eingedenk der Worte des Apostels Paulus: »es ist besser, sie heiraten, als daß sie von Begierde brennen« (1. Kor. 7, 9), traut die Kirche eine zweite Ehe, sieht in ihr aber nicht eine gottgewollte Ehe, sondern eine Folge der sündigen Natur des Menschen und ermahnt deshalb das <94> Brautpaar zur Buße und betet in den Trauungsgebeten um die Vergebung der Sünde der zweiten Eheschließung: »schenke ihnen des Zöllners Bekehrung, die Tränen der Buhlerin, das Bekenntnis des Räubers, damit sie in Buße von ganzem Herzen, in Eintracht und Frieden Deines himmlischen Reiches dereinst würdig befunden werden.«

Das Mysterium der heiligen Ölung

Die orthodoxe Kirche lehrt, daß die heilige Ölung ein von Christus gestiftetes göttliches Mysterium, ein Gnadenmittel ist, das für Kranke bestimmt ist. In diesem Sinne übten die heilige Ölung schon die Jünger während des irdischen Lebens Jesu Christi. Der hl. Evangelist Markus bemerkt: »Sie trieben viele böse Geister aus, salbten viele Kranke mit öl und heilten sie.« (Mark. 6, 13). Die Jünger erfüllten nur das Gebot des Herrn: »Gehet hin und verkündet: Das Himmelreich ist nahe. Heilt die Kranken...« (Matth. 10, 8). Endlich hat auch der hl. Apostel Jakobus geboten: »Ist einer krank unter euch? Er lasse die Presbyter der Gemeinde rufen, und sie sollen über ihn beten und ihn mit öl salben im Namen des Herrn. Und das Gebet des Glaubens wird den Kranken retten und der Herr ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, so werden sie ihm vergeben.« (Jak. 5, 14—15).

Die Gnadengabe dieses heiligen Mysteriums ist also die Vergebung der Sünden und Heilung von der Krankheit durch die göttliche Kraft des Heiligen Geistes. »Arzt und Helfer der Kranken,« betet die orthodoxe Kirche im Ritus der heiligen Ölung, »Befreier und Erlöser der Leidenden, Du selbst, des Alls Gebieter und Herr, schenke die Genesung Deinem kranken Knechte, habe Mitleid und erbarme Dich über ihn, der viel gefehlt hat, und erlöse ihn von den Versündigungen, o Christus, auf daß er verherrliche Deine göttliche Kraft!« Vor der ersten Salbung betet der Priester: »Anfangloser, <95> Endloser, Heiliger der Heiligen, der Du Deinen eingeborenen Sohn gesandt hast, welcher alle Krankheiten und alle Gebrechen unserer Seelen und Leiber heilt, sende herab Deinen Heiligen Geist und heilige dieses öl und mache dasselbe Deinem zu salbenden Knecht zur vollkommenen Lösung seiner Sünden, zur Erbschaft des Himmelreichs... Es werde, Herr, dieses öl ein öl der Freude, ein öl der Heiligung, ein königliches Kleid, ein Panzer der Kraft, Abwehr einer jeden teuflischen Einwirkung, ein Siegel, dem nicht nachgestellt werden kann, Frohlocken des Herzens, ewige Wonne...« Bei der Salbung selbst wendet sich der Priester mit folgendem Gebet an Gott: »Heiliger Vater, Arzt unserer Seelen und Leiber, der Du sandtest Deinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn Jesus Christus, welcher heilet alle Krankheit und vom Tode erlöset, heile auch Deinen Knecht (oder Magd) von der ihn (sie) umfangenden seelischen und körperlichen Krankheit, durch die Gnade Deines Christus, und belebe ihn (sie) nach Deinem Wohlgefallen...« Daß in allen diesen Gebeten die Heilung von der Krankheit mit der Vergebung der Sünden verbunden wird, erklärt sich dadurch, daß die Krankheit als Folge der Sünde betrachtet wird; körperliche Krankheit und seelische Krankheit sind nicht zu trennen.

Das Mysterium der Heiligen Ikonen

Die in der orthodoxen Kirche geübte Verehrung der heiligen Ikonen wurde auf dem 7. ökumenischen Konzil bestätigt. In der diesbezüglichen Definition wird die Inkarnation des Göttlichen Logos als dogmatische Grundlage und Rechtfertigung der Ikonen und Ikonenverehrung angegeben. Nur weil das Wort Gottes Mensch geworden ist und in der Inkarnation sichtbare Gestalt angenommen hat, können Gott, Christus und die in Christo verklärten Heiligen im Bilde dargestellt werden. Die Menschwerdung des Logos ermöglicht <96> die bildliche Darstellung des an und für sich unsichtbaren und transzendenten Göttlichen. »Deines Fleisches Abbild aufrichtend, o Herr, begrüßen . wir es in Ehrfurcht, Deiner Heilsordnung großes Mysterium kündend. Denn nicht im Scheinleib... bist Du, Menschenfreund, uns erschienen. Nein, in der Wirklichkeit der Fleischesnatur.« (Gottesdienst am Sonntag der Orthodoxie). Die Ikone ist natürlich eine Beschränkung, Kenosis, des Göttlichen, aber auch in der Menschwerdung hatte sich ja die Gottheit Selbst erniedrigt. »Durch Deine göttliche Natur bist Du zwar unbegrenzt«, singt die Kirche am Sonntag der Orthodoxie, »doch wolltest in der Zeiten Fülle Du, o Herr, mit Fleischeshülle Dich umgrenzen. Denn durch Annahme des Fleisches nahmst Du auch alle seine Eigenarten an. Darum das Bild der Ähnlichkeit einprägend, halten wir es fest, verehren es, erhebend uns zu Deiner Liebe...« Die heilige Ikone ist gleichsam eine Fortsetzung der Inkarnation des Göttlichen, offenbart ebenso wie der Leib Christi das unsichtbare, verborgene Göttliche.

 

In Seiner Inkarnation hat Christus sich mit der ganzen Menschheit verbunden und diese in die Sphäre des Göttlichen erhoben, denn die menschliche Natur in Christus war ja, infolge der hypostatischen Union mit der göttlichen Natur, vergottet. Die Heiligen, die Christus nachgefolgt sind, Ihn in sich aufgenommen, sich mit Ihm vereinigt haben, sind zu Christusträgern, zu Teilnehmern an der göttlichen Natur (2. Petr. 1, 4) und Tempeln des Heiligen Geistes (1. Kor. 6, 19) geworden. Deshalb sind auch die Ikonen der Heiligen, als Abbilder ihrer vergöttlichten Menschheit, gerechtfertigt und geheiligt. Tatsächlich sind auch die orthodoxen Ikonenmaler bestrebt, auf den Ikonen der Heiligen ihre verklärte Menschheit darzustellen. Der Inhalt der Ikone soll ja die vergöttlichte Wesenheit des Urbildes wiedergeben. In Anlehnung an die platonische Philosophie kann man sagen, daß die Ikone das wahre Sein, die ewige Idee des abgebildeten Heiligen zum Ausdruck bringt. Dadurch daß die Ikone <97> der Ausdruck oder das Sinnbild einer verklärten Welt, der himmlischen Kirche ist, in die der auf ihr Dargestellte eingegangen ist, erhebt sie den Schauenden in die göttliche Welt. »Zum Urbilde trägt empor«, so sagt Basilius, »die Verehrung des Bildes. Darum laßt uns beharrlich verehren Christi, des Heilandes, und aller Heiligen Bilder...« »In den heiligen Gestalten der Bilder Christi und der Mutter Gottes schauen wir im Umriß die himmlischen Zelte und jauchzen in heiliger Freude.« (Gottesdienst am Sonntag der Orthodoxie).

In der Definition des 7. ökumenischen Konzils wird darauf hingewiesen, daß derjenige, der auf die Ikone schaut, dadurch bewegt wird, der Dargestellten zu gedenken, sie zu lieben und nachzuahmen. Deshalb sagt man auch oft, daß die heiligen Ikonen eine Bilderbibel für die des Lesens Unkundigen seien, denn die Ikonen stellen in Farben die Heilstatsachen und Vorbilder der Frömmigkeit dar, sind also auch ein Mittel der Belehrung, Erbauung und Erweckung frommer Gefühle und Willensentscheidungen. Damit ist aber das Wesen der Ikonen keinesfalls erschöpft. Der orthodoxe Christ verehrt die Ikonen auch durch Küssen, Räuchern mit Weihrauch und Aufstellen von Kerzen vor ihnen, wie das 7. ökumenische Konzil empfohlen hat. Denn die der Ikone erwiesene Verehrung geht auf das Urbild über; wer die Ikone verehrt, verehrt hiermit auch das Wesen des auf ihr Abgebildeten. »Auf das Urbild weise beziehend die Würde und die Verehrung des Bildes, halten wir es in Ehren, folgend der Gottkünder Lehren.« (Sonntag der Orthodoxie). Die Voraussetzung dieser Lehre ist der Glaube, daß zwischen der Ikone und dem Urbild eine reale mystische Beziehung besteht. Das Abbild ist vom Urbild nicht zu trennen; beide verbindet ein mystisches Band. Das Abbild nimmt am Wesen des Urbildes teil; letzteres ist im ersteren gegenwärtig, offenbart sich durch dasselbe. Es besteht eine mystische Seinseinheit des Dargestellten und der Ikone, ein <98> Einwohnen des ersten in der Ikone. Die Ikone wird zum Medium der Vergegenwärtigung des Dargestellten, zum Ort der Gegenwart des vergöttlichten Wesens der dargestellten Person. Der verklärte Heilige geht in sein Abbild ein, beseelt es. Dadurch wird auch die Ikone erhoben, nimmt am himmlischen Wesen des Heiligen teil. In der Ikone tritt demnach der Gläubige in Verbindung mit dem himmlischen Urbild. Als sichtbarer Ausdruck der unsichtbaren Gegenwart des himmlischen Wesens des Dargestellten ist die Ikone ein Mysterium des christlichen Glaubens.

Wenn in der Ikone das Urbild gegenwärtig ist, so ist in ihr auch die göttliche Kraft des Urbildes anwesend. Deshalb schreibt der hl. Johannes von Damaskus, daß die Ikone mit göttlicher Kraft und Gnade erfüllt ist; sie ist »mit göttlicher Energie und Gnadenkraft erfüllter Stoff«. Die Ikone ist also Träger und Medium der göttlichen Gnade und wundertätigen Kraft; sie ist in Wahrheit ein Gnadenmittel. »Nicht vor kraftlosen Götzenbildern sinken wir Gläubigen hin«; nein, »...Das Bild der Ähnlichkeit einprägend, halten wir es fest, verehren es... Des Heiles Gnade schöpfen wir aus ihm...« (Gottesdienst am Sonntag der Orthodoxie). Im Ritus der Ikonenweihe betet die orthodoxe Kirche, daß Gott die Gnade des Heiligen Geistes auf die Ikone herabsende und dadurch der Ikone wundertätige Kraft — z. B. Heilung von Krankheiten und dämonischen Nachstellungen — verleihe.

In der Ikone verbinden sich also Irdisches und Himmlisches, Geschöpfliches und Göttliches, Stoffliches und Geistiges, Sinnliches und Übersinnliches, Natur und Übernatur, Diesseits und Jenseits, Welt und Gott. Die Ikone verbindet den Gläubigen mit der höheren Welt, der himmlischen Kirche der Verklärten und Verherrlichten; sie ist nicht nur ein Hinweis auf ein Jenseitiges und Ewiges, sondern auch die Verbindung mit dem Ewigen, denn in der Ikone ist das Jenseits im Diesseits gegenwärtig und nimmt das Diesseits am Jenseits teil.

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Da die Ikone ein Mysterium ist, ist auch die Herstellung der Ikone, die Ikonenmalerei, in der orthodoxen Kirche ein sakraler Akt. Der Ikonenmaler muß sich auf sein Werk gehörig vorbereiten durch Fasten und Gebet; die Farben werden mit Weihwasser aufgelöst und es werden Teilchen von heiligen Reliquien beigemischt.

Die Gegner der Ikonenverehrung beschuldigen die orthodoxe Kirche des Fetischismus und der Magie. Von Rückfall in den heidnischen Fetischismus kann aber nicht die Rede sein, da ja nicht die Ikone an sich verehrt wird, sondern der auf der Ikone Dargestellte, der in der Ikone gegenwärtig ist, in der Ikone erscheint. Ebenso hat die Ikonenverehrung nichts mit Magie zu tun, denn kein orthodoxer Christ denkt daran, sich durch Verehrung der Ikone der göttlichen Kraft zu bemächtigen und sie seinem Willen und seinen Zwecken unterzuordnen.

Die Reliquien der Heiligen

Die orthodoxe Kirche verehrt die Reliquien der Heiligen. Sie glaubt auch, daß Gott durch diese Reliquien Seine Gnade denjenigen spendet, die diese unverweslichen Überreste der Heiligen mit Glauben und Hoffnung verehren. Die wundertätige Kraft der heiligen Reliquien ist eine Wirkung der Gnade des Heiligen Geistes, die sich in diesen Reliquien den Gläubigen offenbart. Deshalb betet die hl. Kirche: »Grenzenlos ist die Gnade der Heiligen, die sie von Christus empfangen haben, wodurch auch ihre Reliquien dank der göttlichen Kraft unaufhörlich Wunder wirken, an denen, die ihre Namen mit Glauben anrufen, unheilbare Krankheiten heilen; durch sie, o Herr, befreie auch uns von seelischen und körperlichen Leiden, als Menschenliebender.« (Andacht am Gedenktage der Uneigennützigen).

Die heiligen Reliquien sind für den orthodoxen Christen ein <100> Beweis dessen, daß auch der Leib des Menschen zur zukünftigen Auferstehung und Verklärung berufen ist, stärken also den Glauben an ein jenseitiges ewiges Leben des ganzen Menschen, d. h. dessen mit dem Leibe wiederverbundener Seele. Nur in der heidnischen Philosophie Platos, der Orphiker, Neuplatoniker und anderer wurde der Leib als Gefängnis der Seele betrachtet; im Christentum ist der Leib aber ein Tempel des Heiligen Geistes. Dieser Glaube rechtfertigt auch die Reliquienverehrung.

Die eschatologie der orthodoxen Kirche

Wie in allen Grundwahrheiten des Christentums, so ist die orthodoxe Kirche auch in der Lehre von den letzten Dingen dem eschatologischen Glauben der altchristlichen Kirche treu geblieben. Sie glaubt an die zweite Wiederkunft Christi, die Auferstehung der Toten, das Jüngste Gericht, an den Himmel und die Hölle und an die Verklärung der ganzen Schöpfung.

Der Zwischenzustand nach dem Tode

Nach dem Glauben der orthodoxen Kirche findet schon sofort nach dem Tode eine Art Gericht mit einem vorläufigen Urteil über den Verstorbenen statt. In einer alten Überlieferung, die wir schon in einer Homilie des hl. Kyrill von Alexandrien finden, wird erzählt, daß die Seele des Verstorbenen sofort nach dem Tode verschiedene Stationen durchlaufen muß, wobei sie von guten und bösen Engeln begleitet wird. Auf diesen Stationen muß sie über ihre guten und bösen Taten Rechenschaft ablegen, und dann wird über ihr vorläufiges Schicksal entschieden, d. h. sie wird entweder des Vorgeschmacks der ewigen Seligkeit gewürdigt, oder zum Aufenthalt in der Vorhölle verurteilt. Nach der Meinung einiger orthodoxer Theologen ist dieses Gericht aber mehr ein Selbstgericht des Verstorbenen als ein Gottesgericht. Die <101> Seele erkennt ihre Sünden und ihren sündhaften Zustand und damit auch im voraus ihr zukünftiges Los. Die Seele des Sünders erwartet mit Angst und Zittern das letzte Gericht und die verdiente ewige Strafe. Diese Erkenntnis verursacht Leiden und Qual. Dies ist die Vorhölle. Die Gerechten und Heiligen aber werden schon nach dem Tode der Gottesnähe, der Gottesschau und des Vorgeschmacks der ewigen Seligkeit gewürdigt.

Die Qualen der Sünder in der Vorhölle und die Seligkeit der Gerechten und Heiligen sind noch nicht der Endzustand, denn das Endgericht und die vollkommene Seligkeit und ewigen Höllenstrafen stehen noch bevor. Deshalb kann Gottes Liebe und Barmherzigkeit den Sündern in der Vorhölle Erleichterung gewähren, zwar nicht auf Grund irgendwelcher Genugtuung oder sündentilgender Leiden, sondern einzig nur nach Seiner Gnade. Um diese Begnadigung und Erleichterung betet die Kirche in ihren Gebeten für die Verstorbenen. Sie betet um Vergebung der Sünden, um Seelenruhe, Seligkeit und ewiges Gedächtnis. Ein Fegfeuer als Ort der Läuterung durch Leiden, die satisfaktorische Bedeutung haben sollen, kennt die orthodoxe Kirche nicht. Da die Heiligen noch nicht der vollkommenen Seligkeit teilhaftig sind, bringt die Kirche die heiligen eucharistischen Gaben auch für diese dar. »Noch bringen wir Dir diesen vernünftigen Dienst dar für die im Glauben entschlafenen Urväter, Väter, Patriarchen, Propheten, Apostel, Verkündiger, Evangelisten, Märtyrer, Bekenner, Enthaltsamen und für jeden gerechten Geist, der im Glauben vollendet hat.« (Chrysostomusliturgie, Gebet nach der Wandlung). Bis zur endgültigen Entscheidung ihres ewigen Schicksals am Tage des Jüngsten Gerichtes befinden sich alle Verstorbenen, sowohl die Heiligen, als auch die Sünder, in einem Zwischenzustand, der erst mit der zweiten Wiederkunft Christi endigt.

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Die zweite Wiederkunft Christi

»Ich glaube... an Einen Herrn Jesus Christus..., Der wiederkommen wird mit Herrlichkeit, zu richten die Lebendigen und die Toten«, bekennt die orthodoxe Kirche im nicäno-konstantinopolitanischen Symbol, denn Jesus Christus hat Selbst gesagt: »Der Menschensohn wird kommen mit Seinen Engeln in der Herrlichkeit Seines Vaters und dann einem jeden vergelten nach seinen Werken.« (Matth. 16, 27). In der Apostelgeschichte lesen wir: Nachdem Christus den Blicken Seiner Jünger durch eine Wolke entrückt war, traten zwei Männer in weißen Kleidern zu ihnen und sprachen: »Ihr Männer von Galiläa... Dieser Jesus, der von euch weg in den Himmel aufgenommen ist, wird ebenso wiederkommen, wie ihr Ihn habt zum Himmel auffahren sehen.« (Apg. 1, 9—11). Deshalb lehrt die Kirche, daß unser Herr Jesus Christus mit demselben Leibe wiederkommen wird, mit dem Er zum Himmel aufgestiegen ist: Es »steigt herrlich empor mit Seinem Fleische Christus zum Vater und wird mit dem Fleische kommen und erlösen die frommen Ihm Dienenden.« (Sonntag, Morgengottesdienst, 1. Ton). Während der Zweck der ersten Niederkunft Christi in der Inkarnation die Erlösung der Menschheit war, wird Christus das zweite Mal kommen, um das letzte Gericht über die Lebendigen und die Toten zu vollziehen.

Die zweite Wiederkunft Christi wird von außerordentlichen Zeichen begleitet sein. Der Herr kommt mit Seinen Engeln. Es werden sich Erdbeben und Katastrophen im Reiche der Himmelskörper ereignen. »Des Erzengels Stimme und Gottes Posaune erschallt.« (2. Thess. 4, 16). Die Verstorbenen werden auferstehen und die überlebenden zugleich mit den Auferstandenen dem Herrn entgegengehen und auf Wolken in die Luft entrückt werden. (2. Thess. 4, 17). Dann folgt das letzte Gericht. Der Herr besteigt Seinen Thron; alle Menschen aller Länder und Zeiten »müssen vor dem <103> Richterstuhle Christi erscheinen, damit jeder für das seinen Lohn empfängt, was er bei Lebzeiten Gutes oder Böses getan hat.« (2. Kor. 5, 10). »Er wird auch, was im Finstern verborgen ist, ans Licht bringen und die Gedanken der Herzen offenbar machen. Dann wird jedem sein Lob von Gott zuteil werden.« (1. Kor. 4, 5). Im Großen Bußkanon ist außerdem gesagt, daß der Mensch auch von seinem eigenen Gewissen gerichtet wird. »Deshalb eben bin ich verurteilt, deshalb gerichtet, ich Unglückseliger, vor meinem eigenen Gewissen, dem nichts in der Welt an Gewalt überlegen ist.«

Der Himmel — das himmlische Reich des ewigen Lebens und der ewigen Seligkeit der Gerechten — wird in den liturgischen Büchern der orthodoxen Kirche ebenso wie in der Heiligen Schrift bildlich beschrieben. Er ist »der Ort des Lichtes«, »der Ort der Wonne«, »der Ort der Erquickung, von wo hinwegflieht Schmerz, Trauer und Seufzen«, der Ort, wo »das Licht des Angesichtes Gottes« leuchtet, der Ort »der ewigen Ruhe«, der Ort »der Gezelte der Gerechten«. Im Gegensatz zum Himmel ist die Hölle der Ort, »wo das nimmer erlöschende Feuer und die äußerste Finsternis ist, wo der Sturm und das Knirschen ist und die Verzehrung der Sünder« (Sonntag, Abendgottesdienst, 5. Ton), »der Ort der Qual« und ewigen Strafen.

Eingedenk der Worte des Herrn vom »ewigen Feuer, das dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist« (Matth. 25, 41), von der »ewigen Pein« (Matth. 25, 46) und von der Hölle als dem »unauslöschlichen Feuer, wo der Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht erlischt« (Mark. 9, 43—44) und ebenso der Worte der hl. Apostel vom »ewigen Verderben« derer, die Gott nicht kennen und sich dem Evangelium nicht unterwerfen (2. Thess. l, 9) und vom »Rauch der Qualen, der in alle Ewigkeit aufsteigt« (Offenb. 14, 11), verwirft die orthodoxe Kirdie die Lehre von der Apokatastasis, die auch auf dem 5. ökumenischen Konzil verurteilt worden ist. . Nicht nur die Seele, sondern auch der Leib, das Fleisch <104> wird am Jüngsten Tage auferstehen, da ja Christus mit Seinem Leibe auferstanden ist und in Seiner leiblichen Himmelfahrt auch die menschliche Natur verherrlicht hat. Am Fest Christi Himmelfahrt singt die orthodoxe Kirche: »Nun ward erhoben über die Engel unsere einst gefallene Natur und auf den göttlichen Thron gesetzt...« Im dritten Gebet am Pfingst-Abendgottesdienst betet sie: »...erwecke auch unsere Leiber auf an dem Tage, den Du bestimmt hast nach Deinen heiligen und untrüglichen Verheißungen...« Obgleich unsere auferstandenen Leiber dem Wesen nach dieselben sein werden, in denen wir auf Erden gelebt haben, werden sie doch verändert, nämlich verklärt, vergeistigt sein. Christus wird, nach den Worten des Apostels Paulus, »unseren hinfälligen Leib umwandeln und Seinem verherrlichten Leibe gleichgestalten.« (Phil. 3, 21. Vergl. 1. Kor. 15, 42—44, 49). »Die Toten werden auferstehen in Unverweslichkeit und wir werden verwandelt werden.« (1. Kor. 15, 52).

Zu den eschatologischen Ereignissen gehört endlich noch das Ende der Welt, die Verklärung der ganzen Schöpfung und der Anbrach eines neuen Äons. Am Tage des Herrn »wird sich der Himmel in Feuer auflösen, und die Elemente werden in Gluthitze zerschmelzen. Wir erwarten aber gemäß Seiner Verheißung einen neuen Himmel und eine neue Erde, worin die Gerechtigkeit ihre Stätte haben wird.« (2. Petr. 3, 10—13). Der Kosmos wird also nicht zerstört und vernichtet, sondern gleichsam durch Feuer geläutert, erneuert, umgewandelt und verklärt, denn mit Seinem vergöttlichten, verklärten und in den Himmel erhobenen Leibe ist Christus auch mit dem ganzen stofflichen Weltall verbunden. Deshalb wird auch die zweite Wiederkunft Christi kosmische soteriologische Bedeutung haben. Die durch den Sündenfall zerstörte kosmische Ordnung und Harmonie wird wiederhergestellt; eine neue verklärte und verherrlichte Welt wird erstehen.

Dann erfüllt sich »das Harren der Schöpfung« »auf die Offenbarung der Kinder Gottes«. Denn »die Schöpfung wurde <105> der Vergänglichkeit unterworfen, nicht nach eigenem Willen, sondern durch den, der sie unterwarf«. Sie wird »von der Knechtschaft der Vergänglichkeit frei und an der herrlichen Freiheit der Gotteskinder teilnehmen.« (Röm. 8, 19—21). In einem Gebet am Gedenktag der Beschneidung Christi wird dieser letzte Äon als der »achte« bezeichnet. Endlich übergibt Christus Sein Reich Gott dem Vater, nachdem Er zuvor alle andere Herrschaft, Macht und Gewalt aufgehoben hat; der letzte Feind — der Tod — wird vernichtet; alsdann »wird sich auch der Sohn Selbst Dem unterwerfen, Der Ihm alles unterstellt hat. Dann ist Gott alles in allem.« (1. Kor. 15, 24—28).

Die eschatologische Einstellng der Orthodoxie

Die ersten Christen waren eschatologisch eingestellt; sie erwarteten die nahe Wiederkunft des Herrn und Heilandes und den Anbruch des Gottesreiches. »Maran atha« (1. Kor. 16, 22), d. h. der Herr kommt! war der gebräuchliche Ausdruck dieser eschatologischen Stimmung. Was für uns Christen des 20. Jahrhunderts nur noch abstrakter Glaube an ein erst in ferner Zukunft bevorstehendes Ereignis ist, war für die ersten Christen schon innere Erfahrung, schauten sie schon mit ihrem geistigen Auge. Die Endzeit war für sie schon angebrochen. Die Erscheinung Christi, des Sohnes Gottes, im Fleische war schon der Anbruch dieser Endzeit. Deshalb schrieb der Apostel Petrus: »Erschienen ist Er (d. h. Christus) um euretwillen am Ende der Zeiten.« (1. Petr. 1, 20). »In dieser Endzeit hat Er (d. h. Gott) durch Seinen Sohn zu uns gesprochen«, lesen wir in der Epistel an die Hebräer (l, 1). Sogar das Gericht vollzieht sich schon jetzt: »Jetzt ergeht das Gericht über diese Welt; jetzt wird der Fürst dieser Welt hinausgestoßen.« (Joh. 12, 31). Auch das ewige Leben ist <106> schon jetzt in den Gläubigen gegenwärtig: »Wer Mein Wort hört und Dem glaubt, der Mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern ist schon vom Tode zum Leben übergegangen.« (Joh. 5, 24). Gottesreich ist auch schon in dieser Welt und gegenwärtige Wirklichkeit, ist nahe zu jedem gekommen; der Äon des Heiligen Geistes ist schon angebrochen. Seinen Gegnern, den Pharisäern, erwiderte Christus: »Wenn ich aber den Teufel durch den Geist Gottes austreibe, so ist damit das Reich Gottes zu euch gekommen.« (Matth. 12, 28).

Christus Selbst zeugte vom Anbruch des Äons des Heiligen Geistes in folgenden Aussprüchen: Zunächst das Selbstzeugnis Jesu in der Synagoge zu Nazareth, wo Er die Prophetie des Isaias (Is. 61, l f.) »Der Geist des Herrn ruht auf Mir. Er hat Mich gesalbt, den Armen die frohe Botschaft zu bringen. Er hat Mich gesandt zu heilen, die gebrochenen Herzens sind, den Gefangenen die Befreiung anzukündigen. Den Blinden das Augenlicht, Bedrückte in Freiheit zu setzen, das Gnadenjahr des Herrn auszurufen... Heute ist dieses Schriftwort, das ihr soeben vernommen habt, in Erfüllung gegangen« (Luk. 4, 21 ff.) auf Sich Selbst bezieht. Weiterhin: am letzten Tage des Laubhüttenfestes rief Jesus: »Wen dürstet, der komme zu Mir und trinke! Wer an midi glaubt, aus dessen Herzen werden, wie die Schrift sagt, Ströme lebendigen Wassers fließen.« Erklärend fügt der Evangelist Johannes hinzu: »Damit meinte Er den Geist, den jene empfangen sollten, die an Ihn glaubten. Denn der Heilige Geist war noch nicht da, weil Jesus noch nicht verherrlicht war.« (Joh. 7, 37—39). Nach der Herabkunft des Heiligen Geistes am Pfingstfest bezog sich der Apostel Petrus auf die Worte des Propheten Joel, die sich erfüllt hatten: »In der Endzeit, spricht Gott, werde ich ausgießen Meinen Geist über alles Fleisch... Selbst über Meine Knechte und Mägde werde ich ausgießen Meinen Geist in jenen Tagen... Wunderzeichen will ich erscheinen lassen... ehe anbricht <107> der Tag des  Herrn,  der große und furchtbare Tag...« (Apg. 2, 17 ff.). Dieser Heilige Geist ist die göttliche Kraft, die die Wiedergeburt des Menschen zu einem neuen Leben bewirkt und neue Menschen, Bürger des Reiches Gottes schafft. Wenn dies alles so ist, dann leben wir schon gegenwärtig in der Endzeit und unsere Stimmung, Einstellung und Lebensführung muß eschatologisch orientiert sein. Tatsächlich hat sich dieser eschatologische Geist des Urchristentums bis jetzt in der orthodoxen Kirche bewahrt.   Der   orthodoxe Christ fühlt schon jetzt das Zukünftige als lebendige Gegenwart; er kennt keinen scharfen Trennungsstrich zwischen Diesseits und Jenseits. Die eschatologische Einstellung der orthodoxen Christen äußert sich z. B. im orthodoxen Osterglauben. Nicht umsonst sagt man, der orthodoxe Glaube sei in erster Linie Auferstehungsglaube. Im Zentrum des religiösen Bewußtseins der westlichen Christenheit steht oft das Kreuz und der Gekreuzigte. Der orthodoxe Osten schaut Christus vorwiegend als den Auferstandenen, den Sieger über Tod und Hölle; deshalb   ist  —  wie  auch   für  den   römischen  Katholiken  — das Osterfest das Fest der Feste, die Feier aller Feiern. Wenn die Inkarnation des Logos, die Vereinigung der göttlichen und menschlichen Natur in Christus die Grundlage der Erneuerung der Schöpfung ist, ist Christi Auferstehung der Anfang, das Unterpfand, der Keim der allgemeinen Auferstehung zum ewigen Leben. Sie ist sogar noch mehr:   mit  Christi   Auferstehung ist das ewige Leben schon in diese Welt eingegangen und wird von jedem, der sich mit Christus vereint hat, wirklich erfahren. Christus, der Auferstandene, hat schon den Tod und die Hölle besiegt und in und mit Ihm alle, die an Ihn glauben und in Gemeinschaft mit Ihm leben; auch in ihnen ist schon jetzt der Keim der Unsterblichkeit. Im Ostergottesdienst   wiederholen   sie   jubelnd   die   Worte   des   Apostels: »Der Tod ist verschlungen in den Sieg! Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?..  Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch unseren Herrn Jesus <108> Christus.« (1. Kor. 15, 55, 57). In diesem Osterglauben und in dieser Osterfreude hat der orthodoxe Christ schon jetzt eine mystische Vorwegnähme und ein Vorerleben der künftigen Auferstehung und Verherrlichung.

Weiterhin fühlt der orthodoxe Christ im Kultus, besonders in der Göttlichen Liturgie und in den Mysterien, die reale, lebendige Gegenwart des Göttlichen, Ewigen, Jenseitigen und Übersinnlichen, eine Vorwegnahme des Kommenden und ein mystisches Erleben der ewigen Seligkeit der Gottesgemeinschaft und Gottesschau. Die ganze Liturgie der orthodoxen Kirche ist vom eschatologischen Geist erfüllt und durchdrungen. Hier sind Raum und Zeit schon überwunden. An der liturgischen Feier nehmen nicht nur die anwesenden Gläubigen teil, sondern auch die ganze himmlische Kirche, die Chöre der heiligen Engel, alle Heiligen und Verstorbenen. Am Eingang mit dem heiligen Evangelium nehmen die Engel teil, ebenso am großen Eingang, bei dem die Engelscharen den König des Alls begleiten. In vielen Gebeten wird der Heiligen und Verstorbenen gedacht, denn auch für sie wird das eucharistische Opfer dargebracht. Um die hl. Trapeza, den Thron der allerheiligsten eucharistischen Gaben, des Leibes und Blutes Christi, ist die ganze Kirche versammelt. Hier ist auch das himmlische Jerusalem gegenwärtig, der kommende Christus ist schon erschienen und mit Ihm das Gottesreich und ewige Leben. Die ganze Liturgie ist ja nichts anderes als die reale Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte und der von Christus vollbrachten Erlösung, Seiner Geburt, Erscheinung, Leiden, Seines Opfers am Kreuze und Todes, Seiner Auferstehung und Himmelfahrt.  Die liturgische Feier ist nicht nur eine Erinnerung an das von Christus vollzogene Heilswerk, sondern eben eine Vergegenwärtigung desselben. Der Gläubige erlebt dasselbe, nimmt daran teil. Deshalb betet der Geistliche nach der Kommunion: »Nachdem wir die Auferstehung  Christi   gesehen  haben,   lasset   uns   anbeten   den heiligen Herrn Jesus... Kommt alle Gläubigen, lasset uns <109> anbeten die heilige Auferstehung...« »Werde licht, werde licht, neues Jerusalem, denn die Herrlichkeit des Herrn ist über dir aufgegangen; frohlocke jetzt und sei fröhlich, o Sion...« Der Chor singt: »Wir haben das wahre Licht gesehen; wir haben empfangen den himmlischen Geist; wir haben gefunden den wahren Glauben. Lasset uns anbeten die unzertrennliche Trias, denn sie hat uns erlöset.« Vor der Beendigung der Basiliusliturgie betet der Priester vor der Prothesis: »Vollbracht und vollendet ist, soviel in unserer Kraft ist, Christus, unser Gott, Deines Erlösungsplanes Geheimnis. Denn wir haben Deines Todes Gedächtnis, wir sahen Deiner Auferstehung Bild, wir haben uns erfüllt mit Deinem unendlichen Leben, genossen Deine unvergängliche Wonne, deren Du auch im künftigen Weltalter uns alle zu würdigen geruhen wollest...« In der Liturgie hat der Gläubige also lebendige Gottesgemeinschaft, nimmt am Heilswerke Christi teil, wird in den heiligen Geheimnissen des Leibes und Blutes Christi mit der Vergottung begnadigt, geht in ein neues göttliches Sein ein, hat den Vorgeschmack der ewigen Seligkeit. Dasselbe vollzieht sich auch in den heiligen Mysterien. Auch in ihnen schafft die Kraft des Heiligen Geistes einen neuen Menschen (in der Wiedergeburt der heiligen Taufe), ein neues Leben, ein neues Sein, Vergottung und ewiges Leben. Wie in der Göttlichen Liturgie, so erfährt der Gläubige auch in den heiligen Mysterien die Vergegenwärtigung des Kommenden, die Vorwegnahme der himmlischen Güter und den Vorgeschmack der künftigen Seligkeit. So sind im kultischen Geschehen der heiligen Liturgie und Mysterien Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich; das Göttliche und Ewige ist gegenwärtig in dieser Welt und in dieser Zeit. Der wiederkommende Christus zieht schon jetzt in das innere Heiligtum Seiner Gläubigen ein, heiligt, vergottet Seele und Leib. Schon gegenwärtig ist im Wirken des Heiligen Geistes und in der Gemeinschaft Christi, der in der Seele des Gläubigen wieder erschienen ist und Wohnung <110> genommen hat, die höhere wahre und göttliche Wirklichkeit zur neuen Existenz des Menschen geworden.

»Die eschatologische Einstellung des Ostens gibt ihm den jenseitsbestimmenden Charakter«, schreibt Julius Tyciak (Wege östlicher Theologie, Bonn 1946, S. 173). Gerade der orthodoxe Christ lebt nach den Worten des Apostels: »Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern wir suchen die zukünftige.« (Hebr. 13, 14). Deshalb kennt er auch nidit den westlichen Eigentumsbegriff. Er kann sich viel leichter als der Okzidentale von allem lossagen und sagt sich auch von allem los, um seine Seele für die Ewigkeit zu retten, um dem wiederkommenden Christus entgegenzugehen und im neuen Jerusalem seine ewige Heimat zu finden. Der Pilger, der barfuß, nur mit dem Allernotwendigsten versehen, zu jeder Jahreszeit von Dorf zu Dorf, von Kloster zu Kloster, von Sibirien nach Jerusalem, aus dem Heiligen Lande auf den heiligen Berg Athos wanderte, war im alten Rußland eine alltägliche Erscheinung und charakterisiert die orthodoxe Volksfrömmigkeit. Diese Pilger hatten wirklich keine bleibende Stätte; sie waren überall und nirgends zu Hause; ihre eigentliche geistige Heimat war schon auf dieser Erde das himmlische Jerusalem.

Man machte der orthodoxen Kirche den Vorwurf, daß sie viel zu wenig auf kulturellem Gebiete geleistet habe, sich fast nicht für Fragen des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens interessiere, sie nicht für wichtig und wesentlich betrachte. Dieser Vorwurf ist nicht ganz unberechtigt, denn das Ideal der Orthodoxie ist tatsächlich nicht die Kultur, sondern die Verklärung des Menschen und der Welt. Die Orthodoxie will bewußt nicht eine Magd des materialistischen Kulturideals sein. Deshalb richtet sie ihre Aufmerksamkeit nicht auf die Angelegenheiten und Sorgen der irdischen Geschäftigkeit, sondern blickt mit dem geistigen Auge in die höhere ewige Welt, sehnt sich nach Christus, Der wiederkommt, um alles in das Himmelreich heimzuholen. Diese eschatologische <111> Stimmung und Einstellung der Orthodoxie ist auch die eigentliche Wurzel des Radikalismus und Maximalismus, die die orthodoxe Frömmigkeit charakterisieren.

Was erhält die orthodoxen Christen in der gegenwärtigen Zeit aufrecht, gibt ihnen moralischen Halt und Hoffnung? — Nur die eschatologische Einstellung der Orthodoxie, der Glaube, daß das Böse, die dämonischen Mächte schon überwunden sind, daß alle Bedrängnisse und Leiden die Vorboten der bevorstehenden Wiederkunft Christi und des schon anbrechenden neuen Äons sind. Deshalb wiederholen sie auch in diesen schweren, tränenreichen Tagen das altchristliche Gebet: »Komm, Herr Jesus«, »Maran atha«, und hören die Antwort ihres Herrn und Heilandes: »Ja, ich komme bald. Amen.« (Offenb. 22, 20—21).

 Metropolit Seraphim



[1] In weiteren Ausführungen benützen wir im Allgemeinen die ausgezeichnete Abhandlung des Mönches Wassilij „Die asketische und theologische Lehre des hl. Gregorius Palamas“ Kap. 2 ff., Würzburg 1939.